Der Fluch
mich. Ich zögere nicht lange, sondern setze meinen Weg fort, schneller als zuvor, und gleich darauf sehe ich sie am Ende des Weges: die verfallene Hütte.
Ich stoße die Tür auf, die nur noch in den Angeln hängt, und befinde mich in einem Raum, in dem ich kaum etwas erkennen kann. Das Einzige, was ich höre, sind meine eigenen Atemzüge und ab und zu der Wind, der über das marode Dach streift.
Keine Muriel.
Nicht mal eine Spur von ihr.
Stattdessen hängt ein seltsamer Geruch in der Luft, der nicht zu der allgemeinen Atmosphäre von Schimmel und Moder passen will. Ich kann ihn nicht einordnen.
»Muriel?«
Ich lausche.
»Muriel?«
Nichts.
Mein Kopf schmerzt und die Schramme in meinem Gesicht brennt. Ich bin viel zu spät dran. Die Begegnung mit George hat mich bestimmt zwanzig Minuten gekostet und dann war da noch die Sache mit dem Elektrozaun. Muriel müsste längst hier sein.
Was, wenn sie mich in die Irre geführt hat? Wenn ich diesen Weg umsonst gegangen bin? Wenn ich in der Dunkelheit nicht zurückfinde?
Vielleicht ist das genau ihre Absicht?
Ich muss hier weg. Schnell. Noch bevor es komplett dunkel wird. Ich drehe mich schon um, als ich ein Geräusch höre. Es klingt ganz sacht wie eine Art Rascheln. Ratten vielleicht? Mäuse? Nein. Ich weiß, dass es außer Ike keine Tiere im Tal gibt.
Meine laute Stimme stemmt sich gegen die Stille: »Muriel? Bist du da?«
Wieder erhalte ich keine Antwort, dennoch ist da irgendetwas – eine Ahnung oder bloßer Instinkt bringt mich dazu, einige Schritte nach vorne zu machen. Ich stoppe abrupt, als ich einen dunklen Umriss am Boden wahrnehme. Eine viereckige Öffnung zeichnet sich ab. Ich beuge mich hinunter. Ich kann nichts erkennen, doch breitet sich das schreckliche Gefühl einer bevorstehenden Katastrophe blitzschnell wie Gift in meinem Körper aus.
Und nun höre ich das seltsame Geräusch deutlich.
Dort unten ist etwas.
Oder jemand?
»Hallo? Ist da wer? Muriel, bist du dort unten?«
Ich taste in der Tasche meiner Weste nach meiner Taschenlampe, aber finde nichts. Habe ich sie vorhin beim Zaun verloren? Oder schon bei meinem Sturz?
Ich weiß es nicht. Stattdessen greife ich nach meinem Handy und ziehe es hervor. Sobald ich eine Taste drücke, leuchtet das Display auf. Das Licht ist nur schwach und reicht nicht weit. Dennoch hebe ich das Telefon in die Höhe und versuche, mir einen Überblick über meine Umgebung zu verschaffen. Die Öffnung im Boden ist nicht größer als einen Meter auf einen Meter. Ich beuge mich über das Loch und strecke den Arm, so weit es geht, hinunter. Alles, was ich erkenne, ist eine Art Röhre, die zu allen Seiten aus Felsen besteht.
Wieder dringt dieses seltsame Geräusch zu mir herauf. Ich habe das Gefühl, dass es schwächer wird.
Im Schein des Handylichtes erkenne ich etwas, vielleicht zwei bis drei Meter unter mir. Es könnte alles Mögliche sein. Ja, auch ein Mensch. Vor allem ein Mensch.
Denn das, was zu mir nach oben dringt, klingt wie eine Art Stöhnen.
»Hallo, ist dort jemand?«
Keine Antwort.
Dann wieder dieses Stöhnen.
Gibt es eine Möglichkeit, dort hinunterzugelangen? Aber diese Frage stellt sich nicht wirklich. Ich muss. Ich muss dort hinunter.
Das Geräusch ist jetzt in eine Art Klopfen übergegangen, gleichmäßig und rhythmisch wie Morsezeichen.
Klopf – Pause – Pause – klopf.
Ich muss springen.
Ich stecke das Handy in die Hosentasche, taste den Rand der Öffnung ab und setze mich an den Rand. Meine Hände klammern sich an die uralten, zerborstenen Holzbohlen.
Und ohne lange nachzudenken, lasse ich meine Beine nach unten gleiten. Ich habe keine Vorstellung, wie tief es geht. Im nächsten Moment hänge ich bereits in dem Schacht. Ich spüre keinen Boden unter den Füßen.
Ich habe keine andere Chance, als mich fallen zu lassen, und zu meiner Überraschung sind es keine zehn Zentimeter, dann habe ich den Boden erreicht.
Ich gehe in die Knie, beuge mich nach vorne und strecke die Hand aus. Ziehe sie wieder zurück. Strecke sie wieder aus und beuge mich noch weiter vor. Als ich die feuchte Haut unter meinen Fingern spüre, überrollt mich eine Welle der Übelkeit.
»Lass mich nicht alleine sterben.«
Das sind Muriels letzte Worte.
Wie lange aber dauert es, bis ich es begreife? Bis ich wirklich begreife, dass es vorbei ist? Dass Muriel tot ist?
Immer noch höre ich ihre mühsamen Atemzüge, das Kratzen ihrer Fingernägel auf der Erde, ihre flehentliche Bitte, sie nicht allein zu
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