Der Fluch
die Konturen im Raum traten wieder hervor.
»Du siehst doch, dass ich Wichtigeres zu tun habe.« Ich wand mich ab.
»Wichtigeres? Du solltest etwas dafür tun, dass diese Mauern nicht um uns herum einstürzen.«
»Ich tue alles«, erwiderte ich, »um zu verhindern, dass nicht die Welt um uns alle herum einstürzt.«
»Wenn du dieser Heirat nicht zustimmst, bin ich gezwungen, weitere Ländereien zu verkaufen. Deine Vorfahren leben seit Jahrhunderten auf diesem Grund und Boden und es ist deine Pflicht, das Haus zu erhalten.« Vaters Tonfall war schneidend.
In diesem Moment schlugen sämtliche Uhren im Haus die volle Stunde. Sie verkündeten das Vergehen der Zeit. Ich spürte die Schläge tief in meinem Innern und eine Eiseskälte legte sich über meine Haut.
»Lass mich allein«, sagte ich, »ich habe zu tun.«
»Du musst dich um deine Gäste kümmern.«
»Lass mich mit diesen Nichtigkeiten in Ruhe! Ich bin auf der Suche nach etwas Größerem, etwas, das die Welt verändern wird.«
»Meinst du etwa die Zahlen, mit denen du Tag für Tag das Papier vollkritzelst? Ich werde es nicht zulassen, verstehst du … es nicht zulassen.«
Ich sprang auf, meine Hand zur Faust geballt, und war fast so weit, sie ihm ins Gesicht zu schlagen, als mir schwarz vor Augen wurde. Ich taumelte und konnte mich gerade noch am Tisch festhalten. Als Nächstes erinnere ich mich, wie ich an ihm vorbeistürmte, die Tür zur Galerie aufriss und das Treppenhaus hinunterstürzte. Ich brauchte frische Luft.
Der strahlend blaue Himmel spiegelte sich in dem runden Teich, den mein Urgroßvater vor hundert Jahren hatte anlegen lassen. Eine Gruppe Enten tummelte sich auf dem von der Sonne gewärmten Wasser. Auf der gegenüberliegenden Seite schritt ein Pfau über die sorgfältig gestutzte Rasenfläche, die von akkuraten Blumenrabatten eingesäumt wurde. Sie erstreckten sich bis zu dem in der Ferne sichtbaren Wald mit den jahrhundertealten Bäumen.
Warum nur ließ mich all das plötzlich so kalt?
Es gibt zahlreiche Bücher über die Geschichte dieses Landsitzes, über die Landschaft, in der er gelegen ist. Jeder Winkel ist erforscht, jeder Zentimeter vermessen, jede Pflanze katalogisiert, jedes Tier hat einen Namen. Jedoch es ist nur eine Kulisse und ich bin nur eine Figur in einem Plan, den meine Vorfahren geschmiedet haben. Jetzt, wo ich über meinem Tagebuch sitze, spüre ich, wie fremd mir die vertraute Landschaft meiner Jugend geworden ist. Nein, ich kann hier nicht länger leben. Und ein Gefühl der Wut ergreift mich, die so übermächtig ist, dass ich mich kaum beherrschen kann. Mein Geist will frei sein. Nicht nur mein Geist, auch mein Körper.
Aber zurück zu meinem Bericht. Ich muss Zeugnis ablegen, und das möglichst genau.
Ich ging also hinüber zum schmiedeeisernen Tor und sah zurück zum Herrenhaus. Die lebhaften Stimmen drangen bis zu mir hinunter in den Park und trieben mich immer weiter weg. Und wie so oft in letzter Zeit sah ich vor meinem inneren Auge das Gebäude in Flammen aufgehen. Sah die Flammen aus dem alten Gemäuer lodern, die mein Gefängnis bedeuten. Es überkam mich wieder dieses Gefühl der Raserei, gegen das ich in letzter Zeit immer mehr Mühe habe anzukämpfen.
Bis mich eine Stimme aufhielt. Erschrocken fuhr ich herum.
Und glaubte, einen Engel vor mir zu sehen.
»John, ich habe Sie gesucht.«
Blond und hellhäutig, das war das Schönste an ihr, und diese Augen, die mich an den See im Tal erinnerten, wie ich ihn zuletzt gesehen hatte. Die blaue Fläche, die sich von Felsen zu Felsen erstreckte und in der sich eine Welt offenbarte, die es nach menschlichem Verstand nicht geben dürfte.
»Erkennen Sie mich nicht, John? Ich bin es. Fiona.«
Es war ein winziger Augenblick, in dem ich glaubte, sie könne mich retten.
Teil III
Die Nacht von Samstag, 21. Mai
auf Sonntag, 22. Mai 2011
20. Rose
Es ist schon weit nach zwei Uhr nachts. Der Regen prasselt gegen die Fenster des Apartments. Das Geräusch macht mich nervös. Ich bin aufgewühlt und hellwach. An Schlaf ist jetzt nicht zu denken.
Mrs Jones hat mich zurück ins Apartment begleitet, wo David, Robert, Katie und Tim geduldig und besorgt in der Küche gewartet haben, bis das Verhör beendet ist. Sie sehen blass und übernächtigt aus und in ihren Gesichtern stehen unzählige Fragen geschrieben, aber Mrs Jones schickt sie resolut ins Bett. »Rose braucht Ruhe. Sie können morgen früh mit ihr sprechen, wenn Sie alle ausgeschlafen sind.«
Ich habe nicht
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