Der Flug der Adler
herausfallen.
Er fiel dreihundert Meter tief, zog die Reißleine und schwebte
weiter hinab.
Er landete in einem halb voll Wasser
stehenden Granatenkrater, war sich allerdings nicht sicher, ob er sich
nun auf der englischen oder der deutschen Seite der
Schützengräben befand. Aber er hatte Glück. Ein
schlammverschmierter Spähtrupp in Khaki-Montur war in
Minutenschnelle zu ihm vorgedrungen, die Gewehre im Anschlag.
»Nicht schießen. Ich gehöre zum Fliegerkorps«, rief Kelso.
In der Nähe ertönte das
Trommeln einer Maschinengewehrsalve. Während zwei Soldaten Kelso
vom Fallschirm befreiten, zündete ein Sergeant eine Zigarette an
und steckte sie ihm zwischen die Lippen.
»Komischer Akzent, den Sie da haben, Captain«, sagte er in
blühendem Cockney.
»Amerikaner«, antwortete Kelso.
»Na ja, habt euch ganz
schön Zeit gelassen«, sagte der Sergeant. »Wir warten
bereits seit neunzehnvierzehn auf euch.«
Das Feldlazarett war in einem alten
französischen Schloß inmitten einer herrschaftliche n
Parklandschaft untergebracht. Die Reise aus dem Kriegsgebiet war
gefährlich gewesen, und Jack Kelso war dank des Morphiums, das ihm
von dem Infanteriespähtrupp verabreicht worden war, in
Bewußtlosigkeit gesunken. Er wachte in einer Phantasiewelt auf:
ein kleines Zimmer, weiße Bettwäsche, Flügeltüren,
die auf eine Terrasse hinausführten. Er versuchte sich
aufzusetzen, stieß einen Schmerzensschrei aus, zog die Bettdecke
beiseite und sah den dicken Verband. Die Tür ging auf und eine
junge Krankenschwester in Rotkreuzuniform trat ein. Sie war blond,
hatte ein markantes Gesicht, grüne Augen und war
schätzungsweise Anfang zwanzig. Sie war das schönste
menschliche Wesen, das Jack Kelso jemals erblickt hatte. Für ihn
war es Liebe auf den ersten Blick.
»Nein, legen Sie sich
hin«, sagte sie, drückte ihn in die Kissen zurück und
richtete ihm Bett und Bettdecke wieder her.
Ein Oberst mit den Abzeichen der Sanitätstruppe trat ins Zimmer.
»Gibt's irgendwelche Probleme, Baronin?«
»Eigentlich nicht. Er ist nur verwirrt.«
»So geht's aber nicht«,
sagte der Oberst. »Haben gerade erst eine ziemlich große
Kugel aus Ihrem Bein entfernt, mein Junge, also schön brav sein.
Noch eine Dosis Morphium wäre wohl angebracht.«
Er ging hinaus. Die Krankenschwester zog eine
Spritze auf und griff nach Kelsos rechtem Arm. »Ihr
Akzent«, sagte er. »Sie sind Deutsche, und der Mann gerade
hat sie mit Baronin angeredet.«
»Ist sehr praktisch, wenn ich mit Piloten der deutschen Luftwaffe zu tun habe.«
Als sie gehen wollte, griff er nach
ihrer Hand. »Mir ist egal, wer sie sind, solange Sie mir
versprechen, nur mich zu heiraten, Baronin, und niemand anders«,
sagte er benommen. »Wo ist Tarquin?«
»Ist das etwa der Bär?« fragte sie.
»Das ist kein gewöhnlicher
Bär. Ich habe bisher fünfzehn Flugzeuge abgescho ssen, und
Tarquin war immer dabei. Er bringt mir Glück.«
»Nun, da ist er jedenfalls, dort auf der Kommode.«
Tatsächlich. Jack Kelso schaffte
es, den Bären einen Moment lang genau ins Visier zu fassen.
»Hallo, alter Kumpel«, rief er ihm zu und sank dann wieder
in Schlaf.
Baronin Elsa von Halder hatte in
Paris festgesessen, als der Krieg ausbrach. Sie stammte aus einem
vornehmen, alten preußischen Adelsgeschlecht – das
völlig mittellos war und dessen Herrenhaus zusehends verfiel
– und war jetzt zweiundzwanzig Jahre alt. Ihr Vater, ein General
der Infanterie, hatte an der Somme sein Leben verloren. Im Laufe der
nächsten Tage schilderte Kelso ihr in allen Einzelheiten sein
privilegiertes Leben in den Staaten, und sie entdeckten, daß sie
etwas gemeinsam hatten: Beide hatten 1916 ihre Mutter verloren, in
beiden Fällen durch Krebs.
Drei Wochen nach seiner Einlieferung ins Lazarett,
während er in einem Liegestuhl auf der Terrasse saß und auf
den Rasen mit den vielen verwundeten Offizieren hinausblickte, die sich
dort in der Sonne erholten, sah Kelso, wie sie auf ihn zukam und hier
und dort ein paar Worte wechselte. Sie hatte ein Paket dabei, das sie
ihm schließlich entgegenhielt.
»Feldpost.«
»Öffnen Sie's für mich«, sagte er, was sie dann auch tat.
Es war ein ledernes Kästchen mit
Brief. »Also, Jack, es ist vom Hauptquartier. Sie sind mit dem
Kriegsverdienstkreuz ausgezeichnet worden.« Sie nahm es heraus
und hielt es hoch. »Freut Sie das nicht?«
»Doch, doch. Aber ich habe
bereits einen Orden«, sagte er. »Nur
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