Der Flug der Adler
achtundvierzig.«
Da merkte sie, wie zerrüttet er war, aber es war Abe, der mit
gezwungener Fröhlichkeit sagte: »Tja,
also, Jack, was hast du denn nun vor? Wieder zurück nach Harvard
und deinen Juraabschluß machen? Du könntest danach in die
Firma eintreten.«
»Du machst wohl Witze. Ich bin
dreiundzwanzig, und wenn du die Ze it betrachtest, in der ich mit dem
MG auf die Schützengräben gefeuert habe, dann siehst du,
daß ich Hunderte von Männern auf dem Gewissen habe. Harvard
kommt für mich nicht mehr in Frage, die Firma ebensowenig. Ich
habe ja das Treuhandvermögen, das Mutter mir vererbt hat. Das
sollte reichen, damit ich mich dem Vergnügen hingeben kann.«
Er trank sein zweites Glas aus. »Entschuldigt mich, ich muß
auf die Toilette.«
Er humpelte hinaus. Abe Kelso
schenkte Elsa noch einen Schluck Champagner nach. »Tja, meine
Liebe, er hat sehr viel durchgemacht. Wir sollten also Rücksicht
mit ihm üben.«
»Entschuldige ihn nicht auch
noch.« Sie setzte ihr Glas ab. »Das ist nicht mehr der
Mann, den ich geheiratet habe. Er fühlt sich immer noch in diesen
gottverlassenen Schützengräben. Er ist da niemals
herausgekommen.«
Was der Wahrheit recht nahekam, denn
in den folgenden Jahren verhielt sich Jack, als wäre es ihm egal,
ob er lebte oder starb. Er war berühmtberüchtigt für
seine Erfolge auf Autorennstrecken. Er flog weiterhin und legte im
Laufe der Zeit drei Bruchlandungen hin. Während der
Prohibitionszeit schmuggelte er sogar Alkohol auf seiner Motorjacht,
und er trank auch stark, wobei er Unmengen vertrug.
Zu seinen Gunsten muß jedoch angemerkt
werden, daß er seine Frau stets mit aus gesuchter
Höflichkeit behandelte. Elsa ihrerseits spielte die gute Ehefrau,
die elegante Gastgeberin, die liebende Mutter. Für Max und Harry
war sie eine wahre Mutti, die ihnen
Französisch und Deutsch beibrachte, und sie liebten sie heiß
und innig. Und doch war ihre Zuneigung zu ihrem trinkenden Vater, dem
Kriegshelden, noch größer.
Es gelang ihm, ein Bristol-Kampfflugzeug zu erwerben, das
er sich in einem kleinen Flugverein
außerhalb von Boston hielt. Der Verein gehörte Rocky Farson,
einem alten Fliegeras noch aus RFC-Tagen. Die Jungen waren erst zehn
Jahre alt, als Jack sie zum ersten Mal auf dem hinteren Cockpit
festgurtete und auf einen Rundflug mitnahm. Ihr ganz besonderes
Geburtstagsgeschenk, wie er sich ausdrückte. Die Jungen waren
vollauf begeistert, aber Elsa drohte damit, ihn zu verlassen, wenn er
dies noch einmal täte.
Abe spielte wie gewöhnlich den
Vermittler. Er war auf ihrer Seite, da Jack beim Flug betrunken gewesen
war, aber Jack war finanziell unabhängig, und es gab keine
Möglichkeit, ihn kurz zu halten.
Es folgten die Jahre 1928 und 1929.
Elsa, enttäuscht von ihrer Ehe wie auch von Amerika, besaß
nichts als ihre aufrichtige Freundschaft zu Abe und die Liebe zu ihren
Kindern, um den ehelichen Belastungsproben standzuhalten. Die Zwillinge
glichen einander natürlich wie ein Ei dem anderen: das strohblonde
Haar und die grünen Augen, die hohen, typisch nordischen Wangen,
die Stimme und auch so einige Eigenheiten. Es gab keinen einzigen
persönlichen Makel oder auch nur ein Muttermal, das die beiden
voneinander unterschied. Meistens konnte selbst Elsa sie nicht
auseinanderhalten, und Abe konnte das gleich gar nicht. Ständig
machten sie sich einen Spaß daraus, die Rollen zu vertauschen und
alle auf den Arm zu nehmen. Sie waren unzertrennlich. Das einzige,
worüber sie in Streit gerieten, war die Frage, wem Tarquin
gehörte. Die Tatsache, daß Max zehn Minuten älter und
dem Erbrecht nach also Baron von Halder war, störte sie nicht im
geringsten.
Im Sommer 1930 brach ein schweres Unglück
über sie herein. Jack Kelso starb bei einem Autounfall in
Colorado. Er war mit seinem Bentley von einer Bergstraße
abgekommen, wonach der Wagen Feuer gefangen hatte. Seine sterblichen
Reste wurden nach Boston überführt, wo Abe, mittlerweile
Mitglied des Kongresses, die Beerdigung vornehmen ließ. Die
Spitzen der Gesellschaft waren anwesend, sogar der Präsident kam.
Die Zwillinge standen in schwarzen Anzügen zu beiden Seiten ihrer
Mutter. Sie wirkten seltsam ungerührt, beinahe erstarrt, und
irgendwie älter als ihre zwölf Jahre.
Nachdem alle gegangen waren,
saß Elsa, in elegantes Schwarz gekleidet, bei geöffneten
Terrassentüren im Salon des großen Hauses und nippte an
einem Brandy. Abe stand am Kamin.
»Und was nun?« sagte er.
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