Der Flug der Adler
West schon gesagt. In
der RAF habe ich angefangen, und in der RAF werde ich auch
aufhören. Hat mein alter Herr im letzten Krieg auch so gemacht,
aber das wissen Sie ja bereits.«
»Ja … aber wissen Sie
was, Harry? Es dürfte Ihnen wahrscheinlich unbekannt sein, aber
ich leite eine Einheit, die Agenten nach Frankreich schmuggelt, per
Luft und für gewöhnlich mit einer Lysander. Sie haben wohl
nicht zufällig Interesse?«
»Ich bin Jagdflieger.«
»Na schön, aber so ein
Geschwader bietet auch Schutz. Insbesondere vor … hungrigen
Adlern, wenn ich so sagen darf?«
Harry lächelte, schüttelte aber wieder den Kopf.
»Nein? Tja, also gut. Trotzdem, Sie wissen, wo Sie mich finden.«
»Ja, so könnte man
sagen«, meinte Harry. »Wie dem auch sei, ich werde ja
morgen für Sie den Storch fliegen. Und das eine kann ich Ihnen
jetzt schon sagen: Die Lysander ist gut, aber der Storch ist
besser.«
Munro lächelte. »Wis sen Sie, irgendwie war mir klar, daß Sie das sagen werden.«
6
Es war zwei Wochen später, als
Sarah Dixon das Heeresministerium verließ und durch den
winterlichen Schneeregen hastete. Weihnachten war nicht mehr fern,
obwohl das in diesen Zeiten nicht viel zu bedeuten hatte. An der
nächstbesten Haltestelle nahm sie eine U-Bahn, die aber ziemlich
überfüllt war. Sämtliche Fahrgäste sahen
erschöpft aus und waren durchnäßt. Sarah merkte nicht,
daß sie verfolgt wurde.
Fernando Rodrigues war ein
gutaussehender Mann – dunkler Typ, fünfunddreißig,
mittelgroß. Er trug einen weichen Filzhut und einen Trenchcoat.
Die Einzelheiten, die sein Bruder ihm per Diplomatenpost hatte zukommen
lassen, waren recht ausführlich gewesen. Auch ein Foto fehlte
nicht. Er hatte ihre Adresse überprüft, nämlich eine
Wohnung in einem Mietshaus, das in einer Seitenstraße der
Westbourne Grove lag. Ihr Name war dort zusammen mit den vielen anderen
klar und deutlich aufgeführt gewesen.
An jenem Morgen hatte er seit halb acht am Ende der Straße
gewartet. Um acht kam sie die Straße
herunter, und er erkannte sie sofort anhand des Fotos. Dann war er ihr
den Queensway hoch zur U-Bahn-Haltestelle Bayswater gefolgt und
anschließend den ganzen Weg bis zum Heeresministerium.
Um fünf Uhr war er wieder an Ort und Stelle, und um halb
sechs kam sie tatsächlich im Gedränge mit anderen Büroangestellten heraus. Er hätte einfach die Klingel an der Eingangstür ihrer Wohnung drücken und mit ihr sprechen können, aber er war von Natur aus vorsichtig. Merkwürdigerweise lag es jedoch nicht daran, weil er etwa Angst gehabt hätte. Er hatte lange genug in Berlin für den SD gearbeitet, um voll und ganz darauf zu vertrauen, daß seine diplomatische Immunität ihn immer decken würde. Wie dem auch sei, er war nie in eine größere Sache verwickelt gewesen. Er hatte lediglich Berichte über die Kriegssituation – Bombenschäden und Truppenbewegungen geliefert, mehr nicht.
An der Bayswater-Haltestelle stieg er mit ihr aus der U-Bahn aus. Er folgte ihr den Queensway hinunter, bog in die Westbourne Grove ein und kam schließlich vor ihrem Wohnblock in der Seitenstraße an. Sie hatte ihn immer noch nicht bemerkt. Als sie ihren Haustürschlüssel herausnahm, tauchte er jedoch plötzlich hinter ihr auf.
Sie wandte sich um, und zu seiner Überraschung schien sie überhaupt nicht erschrocken zu sein.
»Mrs. Sarah Dixon?« sagte er.
»Ja, was wollen Sie?« Sie schien ungeduldig zu sein. Erwartete sie vielleicht bereits jemanden?
»Ich habe eine Nachricht für Sie: Der Tag der Abrechnung ist gekommen.« Es war der Erkennungskode, den der Ire, Patrick Murphy, ihr 1938 gegeben hatte. Ihre Reaktion war erstaunlich gelassen. »Gütiger Gott, Sie haben aber lange auf sich warten lassen. Na, dann kommen Sie mal rein.«
Die Wohnung war sehr klein. Sie bestand nur aus Badezimmer, Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer. Sie legte ihren Mantel ab. »Nehmen Sie Platz, ich mache uns einen Tee. Wer sind Sie eigentlich?«
Sie ging in die Küche, und er folgte ihr bis zur Tür.
»Bevor ich antworte, sagen Sie mir eines: Als Patrick Murphy Sie achtunddreißig anwarb, hieß es, Sie wären sehr antibritisch eingestellt. Ist das noch immer der Fall?«
»Natürlich.«
»Aber Ihr Vater war doch Engländer.«
»Er hat mir nie etwas bedeutet. Ich war zwei, als er starb.« Sie war dabei, den Tee aufzukochen, und sprach in nüchternem Tonfall. »Die haben 1916 meinen Großvater ermordet, ihn
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