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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Wasserfall, er erzählte von >seinem< Dorf, wobei er auf jeden Bestandteil des Pygmäen-Lagers von weitem mit dem Finger deutete.
    »Und Schwester Pascale?« fragte ich am Ende seines Vertrags.
    Alphonse runzelte die Stirn. »Die Klinik, meinen Sie? Sie ist am anderen Ende des Lagers, hinter den Bäumen. Ich rate Ihnen aber nicht, heute abend hinzugehen. Die Schwester ist ärgerlich.«
    »Ärgerlich?«
    »Sehr ärgerlich«, wiederholte Alphonse nur, während er sich abwandte.
    Die Träger bereiteten ein Lagerfeuer vor; ich trat zu ihnen und setzte mich auf einen winzigen Schemel. Bald knisterten die Flammen und verströmten einen intensiven Geruch von nassem Gras: nur sehr widerstrebend verbrannten die Pflanzen, die im Feuer gefangen waren. Jäh war die Nacht hereingebrochen, eine Nacht voller feuchter Schneisen, kühler Windzüge, gellender Vogelschreie. Tief in mir spürte ich etwas wie einen leisen Ruf, einen Hauch nur, leicht wie ein Aufatmen des Herzens; ich hob die Augen und begriff, was es mit diesem neuen Gefühl auf sich hatte: über uns öffnete sich ein klarer, sternenübersäter Himmel. Vier Tage war es her, seit ich zuletzt das Firmament gesehen hatte.
    In dem Augenblick setzten die Trommeln ein.
    Ich konnte nicht anders, ich mußte lächeln. Es war so unwirklich - und zugleich so vorhersehbar. Im tiefsten Urwald hörten wir das Herz der Erde schlagen. Beckes stand auf und brummte: »Nebenan wird gefeiert, Louis. Da müssen wir hin.« Hinter ihm lachte Tina mit bebenden Schultern. Eine Minute später standen wir am Rand der großen Lichtung.
    Im Halbdunkel erkannte man die Aka-Kinder, die kreuz und quer durcheinanderliefen. Vor den Lehmhütten wickelten kleine Mädchen sich in Baströcke. Ein paar Jungen hatten Speere ergriffen und deuteten Tanzschritte an, aber sie gaben ihre Anstrengungen gleich wieder auf und krümmten sich vor Lachen. Aus dem umliegenden Gehölz kamen die Frauen und trugen auf der Hüfte Bündel von Laub und Zweigen herbei, und die Männer sahen dem Treiben belustigt zu, während sie die von Beckes ausgegebenen Zigaretten rauchten. Und ständig dröhnte die Trommel und verhieß kommende Entzückungen.
    Alphonse eilte herbei, eine Windlampe in der Hand. »Wollen Sie die Pygmäen tanzen sehen, Chef?« flüsterte er mir ins Ohr. »Dann folgen Sie mir.« Ich ging ihm nach. Er setzte sich auf eine kleine Bank nahe den Hütten und stellte die Lampe vor sich auf den Boden, so daß die kleinen Geistergestalten im Schein des Feuers deutlich zu sehen waren. Ihr festlicher Tanz zerriß die düstere Nacht.
    Die Akas tanzten in zwei getrennten kreisförmigen Bögen. Auf der einen Seite die Männer, auf der anderen die Frauen. Ein dumpfer Singsang erhob sich: »Aria mama, aria mama ...« In das Gewebe rauher und tiefer Stimmen mischte sich manchmal ein spitzer Kinderton, hoch und schrill über dem allgemeinen Tumult. »Aria mama, aria mama ...« Im Licht der Lampe sah ich zuerst die Frauen vorbeikommen. Runde Bäuche, geschmeidige Beine, Büschel von Laub. Gleich danach erschienen die Männer. Im Petroleumlicht schimmerten die karamelfarbenen Körper erst rot, dann goldbraun, dann aschgrau. Die Baströcke vibrierten gegen den Takt und hüllten die Hüften ihrer Träger in einen bebenden Schleier. »Aria mama, aria mama .«
    Die hämmernden Trommelschläge wurden lauter. Mit gekrümmtem Rücken beugte der Trommler sich über sein Instrument, die Zigarette im Mund. Unter Einsatz aller Muskeln schlug er zu, und sein Hals war gereckt wie der eines Adlers. Ich erschauderte, als ich seine Augen sah: völlig weiß, leuchtend in der Dunkelheit. Alphonse bemerkte meinen Blick und begann zu lachen: »Ein Blinder. Nur ein Blinder. Und der beste aller Musiker.« Gleich darauf fielen die anderen Trommler ein. Der Rhythmus wurde schneller, füllte sich mit Echos und Synkopen und wuchs zu einem Lied der Erde an, das schwindelerregend und unwiderstehlich aufbrandete.
    Weitere Stimmen erhoben sich, vereinigten sich, umschlangen einander über dem Grundgesang >Aria mama, aria mama ...<. Die Magie schwebte als leuchtende Klangwolke unter dem sternenklaren Himmel.
    Wieder kamen die Frauen an der Lampe vorbei. In einer Reihe, jede mit den Händen auf den Hüften ihrer Vorgängerin, bewegten sie sich vorwärts im Takt - es war, als streiften und streichelten sie den Rhythmus, ihre Körper gehörten den Schlägen der Trommeln, wie das Echo dem Schrei gehört, der es auslöst. Sie waren selbst reiner Klang geworden,

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