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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Widerhall aus Fleisch und Blut. Die Männer kehrten zurück. Kauernd, beide Hände auf dem Boden, schwangen sie hin und her wie Pendel - mit einemmal Tiere geworden, Geister, Elfen .
    »Was feiern sie denn?« schrie ich Alphonse ins Ohr, um den Lärm der Trommeln zu übertönen.
    Alphonse warf mir einen befremdeten Blick aus funkelnden Augen zu; der Rest seines Gesichts verschwand in der Dunkelheit. »Feiern?« fragte er. »Sie feiern nicht, sie trauern. Eine Familie aus dem Süden hat ihre kleine Tochter verloren. Deswegen tanzen sie heute mit ihren Verwandten aus Zoko. Das ist so üblich.«
    »Woran ist sie gestorben?«
    Alphonse schüttelte den Kopf und schrie in mein Ohr: »Es ist grauenhaft, Chef! Ganz grauenhaft! Gomun wurde von der Gorilla überfallen.«
    Ein roter Schleier legte sich vor meine Augen.
    »Was weiß man aber den Unfall?« fragte ich mühsam.
    »Nichts. Boma, der Lagerälteste, hat sie entdeckt. Gomun war an dem Abend nicht nach Hause gekommen. Die Leute haben Suchtrupps ausgeschickt. Sie fürchten die Rache des Waldes.«
    »Rache?«
    »Gomun hat nicht im Einklang mit der Tradition gelebt. Sie weigerte sich zu heiraten. Sie wollte bei Schwester Pascale weiterlernen. Aber die Geister lieben es nicht, wenn man sich über sie lustig macht. Deshalb hat die Gorilla sie überfallen. Das weiß jeder: der Wald hat sich gerächt.«
    »Wie alt war Gomun?«
    »Fünfzehn, glaube ich.«
    »Wo genau hat sie gelebt?«
    »In einem Lager im Südosten, nahe den Minen des weißen Mannes.«
    Das Hämmern der Trommeln hielt meinen Geist gefangen. Der Blinde war gänzlich entfesselt und hieb mit hervorquellenden Augäpfeln auf sein Instrument ein.
    »Ist das alles, was du mir sagen kannst? Sonst weißt du nichts?« rief ich.
    Alphonse schnitt eine Grimasse, und seine weißen Zähne erschienen über einer rosafarbenen Zunge; mit einer wegwerfenden Geste erklärte er: »Laß gut sein, Chef. Die Geschichte ist häßlich. Sehr häßlich.«
    Dann schickte er sich an, aufzustehen, aber ich hielt ihn am Arm fest. Der Schweiß rann mir über das Gesicht. »Denk gut nach, Alphonse«, sagte ich.
    Der Schwarze geriet in Wut. »Was willst du eigentlich, Chef?« schrie er mich an. »Daß die Gorilla zurückkommt? Sie hat Gomun die Arme und Beine ausgerissen. Sie hat alles ringsum niedergetrampelt, die Bäume, die Lianen, den Boden. Willst du, daß sie dich hört? Daß sie kommt und uns genauso zermalmt?«
    Der M’Baka sprang auf und packte mit zorniger Geste seine Lampe.
    Die Pygmäen tanzten immer noch, und jetzt imitierten sie eine Riesenraupe. Die Trommel des Blinden schlug schneller, immer schneller, und mein Herz ebenso. Die Serie von Morden war mir in Form von Namen und Leidensdaten ins Gehirn gebrannt. August 1977: Philipp Böhm. April 1991: Rajko Nikolitsch. September 1991: Gomun. Ich war sicher, daß man dem jungen Mädchen das Herz gestohlen hatte. Ein Detail kam mir in den Sinn. Alphonse hatte gesagt: »Sie hat alles ringsum niedergetrampelt, die Bäume, die Lianen, die Erde.« Zwanzig Tage zuvor hatte der Zigeuner Mermet, der Rajkos Leiche gefunden hatte, im Wald von Sliven zu mir gesagt: »Am Tag vorher muß es ein fürchterliches Gewitter gegeben haben. Denn überall lagen abgerissene Zweige und Äste herum, junge Bäume waren umgestürzt.«
    Wieso hatte ich nicht früher begriffen? Die Mörder pflegten im Helikopter zu reisen.

38
     
    Um fünf Uhr brach der Tag an. Durch den Wald hallten die Schreie der Tiere, aber sie klangen wie durch Watte gedämpft. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Gegen zwei Uhr morgens hatten die Akas ihre Zeremonie beendet, ich war in der schwarzen Stille unter dem Dach der Palmenblätter sitzengeblieben und hatte in die letzte Glut gestarrt, die ihren mattroten Schimmer in die Dunkelheit warf. Ich empfand keinerlei Angst mehr, nur eine bleischwere Müdigkeit und ein sonderbares Gefühl der Ruhe, fast der Sicherheit. Als bewegte ich mich jetzt in unmittelbarer Nähe des Krakenkörpers - zu nah, als daß seine Fangarme mich noch hätten packen können.
    Der erste Regen des Tages setzte ein, zuerst nur als ein leichtes Tröpfeln, aber bald schon in dichten, gleichmäßigen Schauern. Ich stand auf und ging zum Lager Zoko.
    Vor den Hütten brannten bereits die Feuer, ein paar Frauen waren mit der Reparatur eines langen Netzes beschäftigt, sicher für die Jagd des Tages. Ich überquerte den Platz und entdeckte hinter den Hütten ein großes Betongebäude, über dem ein weißes Kreuz

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