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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Dickicht, einem hermetischen Geflecht aus Bäumen und Lianen verlor. Die Truppe setzte sich in Marsch.
    Der Dschungel war ein Friedhof, eine Mischung aus verbissenem Daseinskampf und vollständiger Vernichtung. Überall lagen umgestürzte Bäume, vermoderndes Holz, Fäulnisdüfte stiegen auf, die mir wie die letzten Zuckungen eines Lebens in Maßlosigkeit vorkamen. Durch diesen Wald zu gehen hieß, sich dem ständigen Todeskampf auszusetzen, der Melancholie der Düfte, der Feindseligkeit der Moore und Sümpfe. Manchmal drang ein Sonnenstrahl durch das Laubdach und fiel auf die üppige Masse aus Blättern und Lianen, die unter der Berührung zu erwachen schienen, sich wanden und aufjauchzten und wie ausgedörrte Leiber sich mit dem unverhofften Licht vollsogen. Dann wurde der Wald ein wimmelnder Fischteich, ein so mächtiges, dringendes, überquellendes Wuchern, daß man es unter den Füßen wachsen zu hören glaubte. Trotzdem empfand ich kein Gefühl der Bedrängnis. Denn der Wald war auch ein unendlich hingebreitetes Meer. Zwischen den lianenumschlungenen hohen Stämmen, den herabhängenden Ästen, den Myriaden vielgestaltiger Blätter, diesem gigantischen Spitzengewebe, das unseren europäischen Wäldern ähnelte, herrschte eine unvorstellbare Freiheit. Trotz der Schreie, trotz des Baumdickichts wirkte der Wald wie ein großer luftiger Raum. Natürlich war diese Einsamkeit ein Trugbild: kein Millimeter war hier unbewohnt, überall lebte es und drängte sich wimmelnd durcheinander.
    Jedes Tier, sagte Beckes, besetze einen spezifischen Lebensraum. Die durch den Sturz eines Baumes entstandene Lichtung sei die Zuflucht des Stachelschweins, das undurchdringliche Unterholz, abgeschirmt durch Lianen, werde von Antilopen bewohnt, und auf den offenen Lichtungen, sagte er, nisteten die Vögel und sängen den ganzen Tag, dem Regen zum Trotz.
    Manchmal, wenn ein Knurren ertönte oder ein schriller Pfiff sich über die anderen Geräusche erhob, fragte ich Beckes: »Was ist das für ein Schrei?«
    Er dachte eine Weile nach, dann antwortete er: »Das ist die Ameise.«
    »Die Ameise?!«
    »Sie hat Flügel, einen Schnabel und geht auf dem Wasser.« Er zuckte die Achseln. »Die Ameise.«
    Beckes hatte seine eigenen Vorstellungen vom tropischen Regenwald. Wie alle M’Baka war er überzeugt, der Dschungel werde von Geistern bewohnt, mächtigen unsichtbaren Kräften, die mit den wilden Tieren heimliche Bündnisse geschlossen hatten. Im übrigen spricht ein Zentralafrikaner ganz anders von den Tieren als ein Europäer. In seinen Augen sind Tiere dem Menschen zumindest ebenbürtige, oft auch überlegene Wesen, die respekteinflößend und furchterregend sind, geheime Gefühle hegen und verborgene Kräfte besitzen. So sprach Beckes von >der< Gorilla nur mit gedämpfter Stimme, aus Furcht, >sie< zu ärgern, und erzählte, wie die Pantherin des Abends das Glas der Lampe allein durch ihren Blick bersten lassen könne.
    Mit dem ersten Tag setzten die Regengüsse ein. Es war ein unablässiger Wolkenbruch, der bald zu einem wesentlichen Bestandteil unserer Wanderung wurde, nicht minder bestimmend als die Bäume, die Vogelrufe und unsere eigene Aufregung. Diese Sturzbäche brachten keine Frische, sie erschwerten nur unsere Expedition, denn die Erde wurde zum Morast, in dem wir knöcheltief versanken. Aber alle marschierten unverdrossen voran, als könne der Zorn des Himmels uns nichts anhaben.
    In dieser Sintflut begegneten wir mehreren Jägern vom Stamm der M’Baka. Auf dem Rücken trugen sie schmale Körbe, in die sie ihre Beute gestopft hatten: Gazellen mit ockerfarbenem Fell, Affen, zusammengekrümmt wie Säuglinge, silberfarbene Ameisenbären. Die großen Schwarzen tauschten Zigaretten und freundliche Worte mit uns, aber in ihren Mienen stand eine deutliche Unruhe. Sie wollten noch vor Einbruch der Nacht den nördlichen Rand des Waldes erreichen. Nur die Aka wagten es, der Dunkelheit zu trotzen und die Geister zum Narren zu halten. So marschierte unser Trupp in den Süden hinunter wie eine wandelnde Blasphemie.
    Jeden Abend schlugen wir unsere Zelte auf, um uns vor dem Regen zu schützen. Um sechs Uhr brach mit einem Schlag die Nacht herein, die Glühwürmchen begannen zu leuchten und schwirrten unermüdlich durch die Bäume. Ein wenig später aßen wir, saßen auf der Erde, eng ums Feuer geschürt, und stießen Laute wie ausgehungerte Tiere aus.
    Ich sprach nicht, sondern dachte an das geheime Ziel meiner Wanderung. Dann kroch ich in mein

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