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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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denn hinaus?«
    »Ich möchte die Leiche exhumieren und Sie bitten, eine Autopsie durchzuführen.«
    »Sie sind wohl nicht bei Trost.«
    »Schwester Pascale, ich muß meine Vermutungen überprüfen. Sie allein können mir dabei helfen. Nur Sie können sagen, ob die Verstümmelungen an den Organen in Gomuns Körper durch ein Chirurgenmesser entstanden oder die Spuren eines Angriffs durch ein wildes Tier sind.«
    Die Missionarsschwester ballte die Fäuste, und ihre Augen blitzten metallisch - Stahlkugeln unter Lidern aus Fleisch und Blut.
    »Das Lager, in dem Gomun gelebt hat, ist zu weit und fast unzugänglich.«
    »Wir lassen uns hinführen.«
    »Dorthin begleitet uns keiner. Und niemand wird Ihnen erlauben, ein Grab zu schänden.«
    »Wir tun es gemeinsam, es wird niemand anderes dabeisein. Nur Sie und ich.«
    »Sinnlos. Bei diesem Klima, zumal im Urwald, geht der Zerfallsprozeß ungeheuer schnell vonstatten. Gomun wurde vor etwa zweiundsiebzig Stunden begraben. Ihr Körper wird inzwischen nur noch eine faulige Masse voller Würmer sein.«
    »Präzise Schnitte mit einem chirurgischen Messer lassen sich selbst beim derzeitigen Zustand der Leiche noch erkennen. Wahrscheinlich wird Ihnen schon ein kurzer Blick genügen. Wir können den Wettlauf gewinnen, Sie und ich. Es geht um die Wahrheit, die grausame Wahrheit, gegenüber einem unsinnigen Aberglauben.«
    »Mein Sohn, bedenken Sie bitte, mit wem Sie sprechen!«
    »Das tue ich, Schwester Pascale. Die Abscheulichkeit eines faulenden Leibes ist nichts gegenüber der Größe der Wahrheit. Haben die Kinder Gottes sich nicht dem Licht verschrieben?«
    »Ich verbitte mir diese gotteslästerlichen Reden!«
    Schwester Pascale stand auf, ihr Stuhl scharrte quietschend über den Betonboden. Ihre Augen waren nur noch schmale Schlitze in der schiefergrauen Haut. Dann sagte sie, widerwillig: »Gehen wir. Jetzt gleich.«
    Sie machte auf den Fersen kehrt und rief dem schwarzen Mann auf Sango etwas zu, der sofort erschien und geschäftig hin und her hastete. Die Missionsschwester zog ein silbernes Kruzifix an einer Metallkette aus ihrem schwarzen Pullover und küßte es, wobei sie ein paar Worte murmelte. Als sie den Christus wieder auf die Brust sinken ließ, bemerkte ich, daß der Querbalken des Kreuzes abwärts gebogen war, als hätte sich unter dem Gewicht des Leidens das Marterinstrument selbst gebeugt.
    Ich stand ebenfalls auf - schwankend, denn ich hatte seit dem Vortag nichts gegessen und nicht geschlafen. Auf dem Tisch stand unangetastet meine Teetasse. Ich leerte sie in einem Zug. Der Darjeeling war lauwarm und zähflüssig und schmeckte nach Blut.

39
     
    Mehrere Stunden waren wir unterwegs. Victor, der schwarze Boy der Missionsschwester, ging voraus und hieb uns mit der Machete den Durchgang frei. Ihm folgte Schwester Pascale, sehr aufrecht in ihrem khakifarbenen Poncho. Ich bildete die Nachhut; finster entschlossen und konzentriert kämpfte ich mich voran. Wir hielten direkt nach Süden und gingen rasch und schweigend. Wir stapften, kletterten, rutschten, stiegen über halbvermoderte Baumstämme und gewundene Wurzeln, über zerfressene Felsen und glitschige Äste, wateten durch Wasserlöcher und schnitten uns an messerscharfen Blättern. Und der Regen hielt unvermindert an. Wir marschierten durch seine schimmernden Spieße wie Soldaten, die auf dem Weg zur Front Pfähle der Angst passieren. Die Sümpfe wurden immer zahlreicher, bis zum Bauch versanken wir im schwarzen Pfuhl und hatten das Gefühl, rettungslos hinabgezogen zu werden.
    Kein Schrei, keine lebendige Gegenwart unterbrach diesen halbtägigen Fußmarsch. Die Tiere des Waldes hielten sich unter Blättern oder in Erdhöhlen versteckt und waren vollkommen unsichtbar. Lediglich drei Pygmäen begegneten uns; einer von ihnen trug ein ocker und schwarz gestreiftes Tarnhemd, das er wer weiß wo aufgetrieben hatte. Ein schmaler Streifen krauser Haare zog sich über seinen ansonsten kahlen Schädel: ein wahrer Hahnenkamm nach Art der Mohikaner. Der Mann an der Spitze des kleinen Zugs trug einen mit rauchender Glut gefüllten Behälter und einen zylinderförmigen geschlossenen Korb aus geflochtenen Blättern. Schwester Pascale sprach ihn an - es war das erste Mal, daß ich sie die Sprache der Aka sprechen hörte, und ihre tiefe Stimme erklang in den typischen >Hmm-hmm<-Lauten und langen schwebenden Vokalen. Der Aka öffnete seinen Korb und reichte ihn der Missionsschwester. Wieder sprachen sie miteinander, während wir

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