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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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ab. Ein Stück Holz erschien. Seine Oberfläche war leicht gewölbt, rot und rissig. Ich warf die Schaufel beiseite und versuchte den Rindenpanzer mit bloßen Händen herauszuzerren. Beim ersten Mal glitt ich ab, rutschte aus und fiel in den Schlamm. Vom Rand des Grabes aus reichte Schwester Pascale mir die Hand, aber ich schrie sie an: »Lassen Sie mich in Ruhe!« Ich fing von neuem an zu ziehen. Diesmal bewegte sich die Rinde. Es goß immer noch in Strömen, und das offene Grab begann sich mit Wasser zu füllen. Auf einmal gab die Rindenplatte mit einem jähen Ruck nach, mit dem ich nicht gerechnet hatte, und durch den ungebremsten Schwung fiel ich abermals um, wobei mir der Sargdeckel auf den Schädel prallte. Ich spürte eine merkwürdige Weiche und wunderte mich eine Sekunde lang über diese unerwartete Empfindung, aber dann stieß ich einen markerschütternden Schrei aus: diese Weichheit war der Kontakt mit Gomuns Haut, mit ihrem Kinderkörper.
    Ich riß mich zusammen und rappelte mich hoch. Zu meinen Füßen lag die Leiche des jungen Mädchens. Sie war in ein ärmliches, verwaschenes Kleid mit Blumenmuster und eine abgeschabte Jacke gekleidet, und beim Anblick dieser Schäbigkeit zog sich mir das Herz zusammen. Aber ich war überrascht über die Schönheit des Kindes, die makellos wirkte. Ihre Familie hatte sich die Mühe gemacht, vor der Bestattung sämtliche Wunden zu vertuschen - nur ein paar kaum sichtbare Narben zogen sich über ihre Hände und nackten Knöchel. Ihr Gesicht war unversehrt. Tiefe dunkle Ringe lagen um ihre geschlossenen Augen. Schlafes Bruder, dachte ich und war verblüfft über die Wahrheit dieser Binsenweisheit: der Tod schien mir dem Schlaf so ähnlich wie ein Tropfen schwarzer Tinte dem anderen. Die Nässe an meinen Füßen aber brachte mir die Dringlichkeit der Situation zu Bewußtsein. Ich rief: »Jetzt sind Sie an der Reihe. Steigen Sie herunter. Die Grube steht bald unter Wasser!« Schwester Pascale, die ihren Poncho abgelegt hatte, stand aufrecht am Rand des Grabes, beide Hände nervös um das Kruzifix geklammert. Ihre metallgrauen Haare, ihr aschfarbenes Gesicht glänzten im Regen und ließen sie aussehen wie ein eisernes Standbild. Die Augen hielt sie starr auf die Leiche geheftet. Ich schrie erneut: »Schnell, bitte schnell! Wir haben nicht viel Zeit!«
    Sie aber verharrte reglos. Ihr Körper erbebte unter einem krampfhaften Zittern, das stoßweise erfolgte, als stünde sie unter Strom.
    »Schwester Pascale!«
    Sie zeigte mit dem Finger auf das Grab, dann stammelte sie mit der Stimme eines Automaten: »Herr im Himmel, die Leiche . die Leiche löst sich auf .«
    Ich sah hinab und prallte entsetzt zurück gegen die schlammige Wand. Wahre Sturzbäche von Regenwasser flossen in die Grube und unter das Kleid und blähten den Stoff, und jetzt trieb eines ihre Beine in der Lache, einen Meter vom Körper entfernt. Auch der rechte Arm begann sich von der Schulter zu lösen, im Halsausschnitt war weiß der hervorspringende Knochen zu sehen. »Um Gottes willen«, murmelte ich und kletterte, so rasch ich konnte, durch die rötliche Flut aus dem Grab. Oben legte ich mich sofort flach auf die Erde und langte mit beiden Händen hinab, um das Mädchen unter den Achseln zu fassen. Der rechte Arm schwamm davon und trieb plätschernd im Rindensarg, der glitschige Stoff des Kleides entglitt meinen Händen, die Leiche sackte zurück, und ich brüllte vor Wut: »Schwester, helfen Sie mir! Lieber Gott, so helfen Sie mir doch!« Aber die Frau rührte sich nicht. Ich blickte zu ihr hinauf und sah, daß ihr Körper zuckte wie unter Elektroschocks und ihre Lippen bebten, dann hörte ich auf einmal ihre Stimme:
    »... Herr Jesus Christus,
    der du deinen Freund Lazarus im Grab beweintest,
    trockne unsere Tränen.
    Wir bitten dich, erhöre uns ...«
    Wieder tauchte ich die Arme in den Schlamm und zerrte heftiger an der Kinderleiche. Der Kopf tauchte auf, aber unter dem Druck öffnete sich ihr Mund, und ein Schwall weißlicher Würmer quoll hervor. Das Aka-Mädchen war nur noch eine Hülle aus Haut, die Millionen von Aasfressern beherbergte. Ich wandte den Kopf ab und erbrach einen gelben Strahl Galle, ließ aber nicht locker.
    »... der du die Toten zum Leben erwecktest,
    schenke unserer Schwester das ewige Leben.
    Wir bitten dich, erhöre uns ...«
    Ich zog weiter und schaffte es schließlich, das kleine Mädchen aus der schlammigen Grube zu ziehen. Gomun hatte den rechten Arm und ein Bein verloren, und

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