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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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starr und stumm im Regen standen, der erbarmungslos auf uns herabstürzte, als hätte er uns eigens zur Zielscheibe erkoren. Unter der Wucht der schweren Tropfen bogen sich die Blätter an den Bäumen und an den Stämmen, die schwarz vor Nässe waren, rannen Sturzbäche herab.
    Ohne mich anzusehen, murmelte die Missionsschwester: »Das ist wilder Honig.« Ich beugte mich über den Korb und erblickte glänzende Waben, Bienen krochen darauf herum. Ich warf dem Mann einen Blick zu. Er grinste mich mit seinen zugespitzten Zähnen breit an, und ich sah, daß seine Schultern von zahlreichen Stichen geschwollen waren. Ich stellte mir vor, wie der Mann einen bienenumschwärmten Stamm erklomm und unter das Laubdach kroch, um sich der Raserei des angegriffenen Volkes auszusetzen, wie er mit beiden Händen tief in den Rindenspalt tauchte und im Bienenstock herumtastete, um ein paar süße Waben hervorzuholen. Als hätte er mir meine Gedanken vom Gesicht abgelesen, nahm der Aka eine honigtriefende Wabe aus seinem Korb und hielt sie mir hin. Ich brach ein Stück davon ab und steckte es in den Mund, und sofort füllte sich mein ganzer Rachen mit einem einzigartigen, schweren und intensiven Duft. Der Druck meiner Zunge ließ einen außergewöhnlich aromatischen Nektar aus den papierdünnen Sechsecken fließen, so mild und so süß, daß ich tief im Bauch eine Art Rausch davon verspürte - als wären auf einmal meine Eingeweide betrunken.
    Eine halbe Stunde später erreichten wir Gomuns verlassenes Lager. Die Vegetation hatte sich völlig verwandelt, es war nicht länger das undurchdringliche Dickicht, das uns die letzten Stunden umgeben hatte, im Gegenteil - der Wald war hier luftig und licht. So weit das Auge reichte, reihten sich schlanke schwarze Baumstämme in nahezu perfekter Symmetrie aneinander. Wir betraten das Geisterlager. Nur wenige Hütten waren hier errichtet, ohne ersichtliche Ordnung an den Fuß der Bäume geschmiegt, und es herrschte eine Einsamkeit, die körperlich spürbar war. Merkwürdigerweise erinnerte mich dieses vollkommen leere, vollkommen reglose Gelände an Böhms Haus, als ich es am Morgen vor meiner Abreise durchsucht hatte - auch dies ein Ort, in dem der Tod wohnte. Vor einer kleinen Hütte, einem Kuppeldach aus Blättern, blieb Schwester Pascale stehen. Sie sagte ein paar Worte zu Victor, der daraufhin zwei in Stoffetzen gehüllte Schaufeln aus seinem Sack zog. Die Missionsschwester zeigte auf einen frisch aufgeworfenen Erdhügel neben der Kuppel aus Laub. »Dort ist es«, sagte sie; im Prasseln des Regens war ihre Stimme kaum hörbar. Ich stellte meinen Rucksack ab und griff nach einer Schaufel. Victor starrte mich stumm und bebend an. Ich zuckte die Achseln und fuhr mit der Schaufel in die rote Erde und hatte dabei das Gefühl, als stieße ich eine Klinge ins lebendige Fleisch eines Menschen.
    Ich schaufelte. Schwester Pascale sprach unterdessen auf Victor ein - offensichtlich hatte sie ihm den Zweck unserer Expedition nicht erklärt. Inzwischen hatte ich den Hügel abgetragen und arbeitete mich in die Tiefe vor: die äußerst weiche, krümelige Erde bot nicht den geringsten Widerstand. Binnen weniger Minuten war ich bereits auf einen halben Meter Tiefe vorgedrungen. Meine Füße versanken zwischen Insekten und Wurzeln im Humus. »Victor!« rief die Schwester. Ich blickte auf und sah den M’Baka, der wie vom Donner gerührt, mit hervorquellenden Augen vor uns stand. Sein Blick fuhr gehetzt von ihr zu mir und wieder zurück, dann drehte er sich um und ergriff in Panik die Flucht.
    Schweigen legte sich um uns, ich grub weiter. Dann hörte ich, wie die zweite Schaufel aufgehoben wurde, und ich murmelte, ohne aufzusehen: »Lassen Sie doch. Bitte.« Ich stand mittlerweile bis zum Bauch in der Grube. Um mich herum wimmelte es von Würmern, Tausendfüßlern, Käfern und Spinnen; manche flohen vor der Wucht meiner Schaufelhiebe, andere klammerten sich am Stoff meiner Hose fest, als wollten sie mich hindern, dieses Erdbeben, das ich ihnen antat, noch länger fortzusetzen. Der Geruch der Erde betäubte mir die Sinne, rhythmisch fuhr die Schaufel in den nassen Grund, ich grub und grub und vergaß, was ich eigentlich suchte. Doch das plötzliche Zusammentreffen mit einer härteren Fläche brachte mich zur Realität zurück. Und ich hörte die tonlose Stimme meiner Gefährtin: »Das ist die Rinde. Sie sind durch, Louis.«
    Ich zögerte den Bruchteil einer Sekunde, dann schabte ich mit dem Schaufelrand die Erde

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