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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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was für Beweggründe er persönlich hatte, weiß ich nicht.«
    Die Tränen liefen mir übers Gesicht, und ich schrie sie an: »Aber wer ist dieser Senicier heute? Wer ist er, in Gottes Namen! Sag’s mir, Nelly. Ich flehe dich an: hinter welchem Namen versteckt er sich?«
    Nelly leerte ihr Glas. »Pierre Doisneau. Er ist der Begründer von Monde Unique.«

VI
KALKUTTA, FORTSETZUNG UND ENDE

54
     
    4. Oktober 1991,22 Uhr 10 Ortszeit.
    Daß mein Schicksal sich in Kalkutta besiegeln sollte, war logisch, perfekt, unwiderruflich. Nur die verrottende Hölle dieser indischen Millionenstadt bot eine Umgebung, die makaber genug war für die letzte Gewalt meines Abenteuers.
    Als ich aus der Maschine der Air India trat, stürmten feuchte und ekelerregende Gerüche auf mich ein, wie das letzte Röcheln des Monsuns. Wieder einmal öffneten mir die Tropen ihre glühenden Türen.
    Ich folgte dem Zug der anderen Reisenden, dicken Damen in grellbunten Saris und kleinen ausgemergelten Männern in dunklen Anzügen. In Dhaka, dem letzten Zwischenhalt, war ich endgültig aus dem Strom der Touristen ausgeschert, die in die Maschine nach Katmandu umstiegen, und hatte mich den bengalischen Reisenden angeschlossen. Wieder war ich allein, allein unter den Indern, die in ihre Heimat zurückkehrten, und den Missionsschwestern und Krankenpflegerinnen, die sich einer verlorenen Sache verschrieben hatten. Meine vertraute Fauna.
    Wir betraten das Flughafengebäude. An der Decke drehten sich langsam die Ventilatoren, alles war grau und feuchtwarm. In einer Ecke der Halle grub sich ein kränklich aussehender Arbeiter mit der Kreuzhacke in die tieferen Schichten des Fußbodens vor. Neben ihm hockten Kinder, die ihr Gesicht verbargen und eine narbenübersäte Brust entblößten. Kalkutta, die Stadt des Elends, empfing mich ohne Beschönigungen.
    Drei Tage zuvor war ich, nachdem ich meine Tränen und mein unmittelbares Entsetzen überwunden und das Haus der Braeslers verlassen hatte, quer über Land nach Paris zurückgefahren. Noch am selben Tag hatte ich das indische Konsulat aufgesucht, um ein Visum für Ostindien, Bengalen, zu beantragen. »Tourist?« hatte mich eine kleine Frau mit argwöhnischer Miene gefragt, und ich hatte genickt. »Und Sie wollen nach Kalkutta?« Wieder hatte ich genickt, stumm. Woraufhin die Frau meinen Paß an sich genommen und mich beschieden hatte: »Kommen Sie morgen um dieselbe Zeit wieder.«
    Den Tag hatte ich in meinem Arbeitszimmer verbracht; kein Gedanke, keine Überlegung, keine Gefühlsregung hatte sich in mein Bewußtsein gedrängt. Ich hatte lediglich gewartet, daß die Zeit verging, auf dem Parkettboden sitzend, hatte meine notdürftig gepackte Reisetasche betrachtet und meine geladene Waffe. Am nächsten Morgen um halb neun hatte ich meinen Paß mit dem indischen Visum abgeholt und war vom Konsulat aus direkt nach Roissy zum Flughafen gefahren. Ich hatte mich auf alle Wartelisten für Flüge eintragen lassen, die mich meinem Bestimmungsort irgendwie näher brachten, und so ging ich um drei Uhr nachmittags an Bord einer Maschine nach Istanbul; von dort aus flog ich weiter nach Bahrain im Persischen Golf, und mein letzter Aufenthalt war Dhaka, die Hauptstadt von Bangladesh. Nach vierunddreißig endlosen Stunden in Flugzeugen und Wartehallen war ich endlich in Kalkutta, der kommunistischen Hauptstadt von Bengalen.
    Ich nahm ein Taxi, einen Ambassador aus den fünfziger Jahren, der hier der Standardwagen war. Ich nannte dem Fahrer die Adresse eines Hotels, das man mir am Flughafen empfohlen hatte: das Park Hotel in der Sudder Street, im europäischen Viertel gelegen. Nach zehnminütiger Fahrt durch eine grasbewachsene Landschaft geriet ich mit einem Schlag in die dumpfe Hitze der bengalischen Stadt.
    Selbst zu dieser späten Stunde wimmelte Kalkutta von Menschen. Im nächtlichen Staub zeichneten sich Tausende von Gestalten ab: Männer in kurzärmeligen Hemden, die Gesichter in Schatten getaucht, Frauen im bunten Sari mit nacktem Bauch. Ich konnte kein einziges Gesicht erkennen, nur die farbigen Punkte auf den Stirnen der Mädchen oder den schwarzweißen Blick des einen oder anderen Passanten. Auch die Fassaden, die Architektur der Häuser sah ich nicht, ich wurde vorwärts bewegt in einem finsteren Schlauch, dessen Wände nur aus schwarzen Köpfen und ausgemergelten Armen und Beinen zu bestehen schienen. Ein endloser Strom von Menschen, wohin immer der Blick sich wandte. Autos stießen aneinander, Hupen ertönten
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