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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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ununterbrochen, vergitterte Straßenbahnen bahnten sich einen Weg durch die Menge. Von Zeit zu Zeit tauchte unter ohrenbetäubendem Lärm ein Menschenumzug auf. Gehetzte Wesen, in rote, gelbe, blaue Gewänder gehüllt, schlugen auf Trommeln ein und spielten unter scharfen Weihrauchwolken einen betäubenden Singsang auf Blasinstrumenten. Ein Todesfall. Ein Fest. Dann schloß die Menge sich wieder. Leprakranke drängten sich zusammen und streiften den Wagen, klopften an die Scheibe. Mitten im Chaos der Nacht entdeckte ich auch die größte Besonderheit von Kalkutta: die Rikschawallahs, die menschlichen Zugtiere, die auf dürren Beinen galoppierend ihre Karren durch die Stadt zerrten, sich über den aufgerissenen Asphalt quälten und mit vollen Zügen die Abgase einatmeten.
    Aber die Menschenmassen waren nichts, verglichen mit den Gerüchen: unerträgliche Ausdünstungen, die wie gewalttätige, grausame, wütende Wesen sich durch die Luft wälzten. Erbrochenes, Moder, Weihrauch, Gewürze ... Die Nacht in Kalkutta kam mir vor wie eine monströse faulige Frucht.
    Das Taxi bog in die Sudder Street ein.
    An der Rezeption des Park Hotels gab ich einen falschen Namen an und wechselte zweihundert Dollar in Rupien. Mein Zimmer lag im ersten Stock am Ende einer Treppe unter freiem Himmel. Es war klein, schmutzig und stinkend. Ich öffnete das Fenster, das auf den Innenhof mit der Küche hinausging, und sofort schlug mir ein unerträglicher Pesthauch entgegen. Auf der Stelle schloß ich es wieder und verriegelte die Tür. Seit einer Weile konnte ich nicht anders, als mich ständig zu schneuzen und zu räuspern, meine Kehle und meine Nasenwände waren voll von einer schwärzlichen Substanz, derselben ekelhaften Fäulnis, die ich auch in den Falten meines Hemdes entdeckte. Eine halbe Stunde Kalkutta, und ich war bereits von innen heraus vergiftet.
    Ich nahm eine Dusche unter einem Wasserstrahl, der mir genauso schmutzig erschien wie alles andere, und zog mich um. Dann legte ich die verschiedenen Bestandteile der Glock vor mich hin und setzte sie langsam, mit wenigen, sicheren Griffen wieder zusammen. Ich füllte das Magazin mit sechzehn Kugeln und schob es in den Griff. Ich befestigte das Holster am Gürtel und zog meine Leinenweste darüber.
    Dann betrachtete ich mich im Spiegel und fand mich das perfekte Abbild eines Botschaftssekretärs oder Beauftragten der Weltbank, Ich schob den Türriegel zurück und verließ das Zimmer.
    Ich bog in die erstbeste Gasse ein, einen übervölkerten Schlauch ohne Gehsteig oder Fahrbahn; sie bestand lediglich aus einer verwüsteten Strecke Asphalt, an deren Rändern Bettler kauerten und mir flehentliche Blicke zuwarfen. Inder, Nepalesen, Chinesen traten auf mich zu und wollten meine Dollars wechseln. Armselige Läden, deren Eingänge nichts als Löcher in den halbzerfallenen Häuserfronten waren, führten in ekelerregende Tiefen hinab. Garküchen, in denen es Tee, Kuchen, Currygerichte gab ... Rauchschwaden zogen durch die Nacht. Endlich kam ich auf einen großen Platz, auf dem ein gedeckter Markt stand.
    Zahlreiche Glutbecken leuchteten in der Dunkelheit, und ihr Widerschein warf goldene Reflexe auf die Gesichter ringsum. Hunderte von Menschen schliefen entlang dem Platz. Unter Decken aneinandergedrängte Körper, hingestreckt in bleiernem Schlaf. Hier und dort war der Asphalt feucht und glänzte wie eine Fieberbeule. Trotz dieses schrecklichen Elends, trotz des unsäglichen Gestanks war der Anblick atemberaubend - mit einemmal offenbarte sich mir die besondere Struktur der tropischen Nacht. Dieses Schwarz, dieses Blau, dieses Grau, durchdrungen von Feuer und goldenem Licht, getränkt von Rauch und von Düften, schienen mir wie der geheime, der wahre Grund der Wirklichkeit.
    Immer tiefer drang ich in die Nacht ein.
    Kreuz und quer lief ich durch die Stadt, ohne mich um irgendeine Orientierung zu kümmern. Ich durchquerte den gedeckten Bazar, durch den sich schmale, schlechtgepflasterte Straßen zogen, die voller verfaulter, undefinierbarer Materie waren. Von Zeit zu Zeit öffneten sich Türen und gaben den Blick auf gewaltige Säle frei, in denen ameisengleiche Menschen unter bleichem Neonlicht riesige Lattenkisten schleppten und zerrten. Dennoch hatte die wimmelnde Umtriebigkeit hier nachgelassen. Bengalis hockten vor ihren geschlossenen Verkaufsbuden und hörten Radio, hier und dort schor ein Friseur mit müder Hand einen Kopf. Männer spielten ein fremdartiges Spiel, eine Art Tischtennis,
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