Der Flug der Stoerche
besiegt; er erstarrte, verfiel in Schweigen und völlige Teilnahmslosigkeit, aber paradoxerweise wurde er damit zum Liebling seines Vaters. Pierre Senicier kümmerte sich nur noch um dieses Kind, verehrte es mit aller Kraft und aller Grausamkeit, deren er fähig war. Diese abartige Logik bedeutete aber, daß der kleine Junge auch mehr ertragen mußte, immer mehr, bis zur vollständigen Traumatisierung. Ich habe nie begriffen, was Senicier eigentlich wollte. Sein Sohn war stumm geworden und unfähig, sich wie ein Mensch zu verhalten. Er vegetierte.
Aber im selben Jahr kurz nach Weihnachten raffte der Junge sich ein letztes Mal auf und schritt zur Tat. Er beging Selbstmord, so wie man in Afrika Selbstmord begeht - wie ein Kind es tut, das es nicht besser versteht: indem man Nivakin-Tabletten schluckt, die in hohen Dosen den menschlichen Körper irreversibel schädigen, insbesondere das Herz. Nur eins konnte ihm jetzt noch das Leben retten: ein neues Herz. Begreifst du die Logik, die dahintersteckt? Der allmächtige Pierre Senicier! Nachdem er sein eigenes Kind in den Selbstmord getrieben hatte, war er, der glanzvolle Chirurg, der einzige, der es retten konnte. Sofort entschloß er sich, eine Herztransplantation vorzunehmen, wie er sie fünf Jahre zuvor an einem alten Mann von achtundsechzig Jahren durchgeführt hatte. In seinem Haus in Bangui hatte er sich einen Operationsraum eingerichtet, der vergleichsweise aseptisch war. Aber das Wichtigste fehlte ihm: ein kompatibles, funktionstüchtiges Herz. Weit brauchte er freilich nicht zu suchen: zufällig stimmten seine beiden Söhne gewebetypologisch außergewöhnlich gut miteinander überein. In seinem Wahnsinn beschloß der Mann, den jüngeren zu opfern, um den älteren zu retten. Das war am Tag vor Neujahr, zu Silvester 1965. Sénicier bereitete alles zur Operation vor. In Bangui stieg unterdessen die Spannung, überall in der Stadt wurde getanzt und getrunken, Georges und ich gaben einen Empfang und hatten alle Europäer in die französische Botschaft eingeladen.
Während der Chirurg sich zur Operation anschickte, griff die Geschichte in sein Schicksal ein. In der Nacht unternahm Jean- Bedel Bokassa seinen Staatsstreich und füllte die Stadt mit seinen bewaffneten Truppen. Es kam zu Kämpfen, Plünderungen, Brandschatzungen; Menschen kamen ums Leben. Zur Feier seines Siegs ließ Bokassa die Häftlinge aus dem Gefängnis von Bangui frei, und aus der Silvesternacht wurde endgültig ein Alptraum.
Im allgemeinen Chaos aber geschah etwas Besonderes. Denn unter den freigelassenen Gefangenen waren auch die Verwandten der jüngsten Opfer von Sénicier, der seit einer Weile seine grausamen Experimente wiederaufgenommen hatte; ihre Familien hatte er unter verschiedenen Vorwänden einsperren lassen, weil er ihre Vergeltungsmaßnahmen fürchtete. Aber jetzt waren sie frei und begaben sich direkt zu Séniciers Haus, um Rache zu nehmen. Um Mitternacht war Sénicier mit den letzten Vorbereitungen beschäftigt. Beide Kinder standen unter Anästhesie und waren ans EKG angeschlossen; er hatte Blutdruck und Temperatur unter Kontrolle und war bereit, die Katheter zu setzen. In dem Moment drangen die ehemaligen Häftlinge ein. Sie durchbrachen sämtliche Barrieren und verschafften sich Zutritt zum Haus, erschlugen den Verwalter Mohammed, nahmen ihm das Gewehr weg und erschossen damit seine Frau Azzora und seine Kinder.
Senicier hörte das Geschrei und den Lärm, kehrte ins Haus zurück und holte das Mauser-Gewehr, mit dem er sonst auf die Jagd ging. Trotz ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit hatten die Angreifer einem wie Senicier nicht viel entgegenzusetzen. Einen nach dem anderen schoß er nieder.
Das Wichtigste aber fand anderswo statt. Marie-Anne, die gesehen hatte, wie der Vater seinen jüngsten Sohn mit sich genommen hatte, nutzte das Chaos und drang in den Operationsraum ein. Sie riß Infusionen und Schläuche aus dem Körper ihres Jüngsten, wickelte ihn in ein Leintuch und floh mit ihm durch die brennende Stadt, durch Mord und Totschlag. Sie schaffte es bis zur französischen Botschaft, wo die Panik ihren Höhepunkt erreicht hatte. Alle Weißen von Bangui drängten sich hier zusammen und begriffen nicht, was vor sich ging. Einige von uns waren durch Irrläufer verletzt worden, und die Gärten brannten. In dem Moment sah ich Marie-Anne durch die Fenster der Botschaft: sie tauchte buchstäblich aus den Flammen empor, in einem blaugestreiften Kleid voller Flecken von der roten
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