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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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zu den Akten gelegt. Marie-Anne schrieb mir einen letzten Brief, in dem sie verkündete - der Gipfel der Ironie -, ihr Mann sei >geheilt< und sie gingen jetzt beide nach Afrika, um die schwarze Bevölkerung zu unterstützen und medizinisch zu betreuen. Etwa zur selben Zeit erhielt Georges einen diplomatischen Posten in Südostasien und überredete mich, mitzukommen. Das war im November 1963, ich war zweiunddreißig.«
    Auf einmal ging draußen in der Diele das Licht an, und ein alter Mann mit wollener Weste erschien. Georges Braesler. Er trug einen schweren, massigen Vogel mit schmutzigem Gefieder in den Armen, graue Federn breiteten sich über dem Boden aus. Der Mann machte Anstalten, das Zimmer zu betreten, aber Nelly scheuchte ihn fort. »Geh weg«, sagte sie heftig.
    Er zeigte keinerlei Befremden über ihr schroffes Verhalten. Auch über meine Gegenwart war er nicht überrascht.
    »Hau ab!« schrie Nelly.
    Der alte Mann machte kehrt und verschwand. Nelly trank noch einen Schluck und rülpste, und im Zimmer verbreitete sich ein intensiver Whiskygeruch. Allmählich drang das Tageslicht herein, und ich erkannte, wie verwüstet Nellys Gesicht war.
    »Nach einem Jahr in Thailand wurde Georges 1964 neuerlich versetzt. Sein persönlicher Freund Andre Malraux war damals Minister für kulturelle Angelegenheiten, er kannte Afrika gut und schickte uns nach Zentralafrika mit den Worten: >Das ist ein unglaubliches Land. Phantastische Er hätte es nicht besser ausdrücken können. Ein wichtiges Detail war ihm jedoch leider entgangen: ausgerechnet dort lebten jetzt Pierre und Marie- Anne Senicier mit ihren beiden Kindern.
    Unser Wiedersehen war recht merkwürdig. Die alten freundschaftlichen Bande wurden erneuert, das erste gemeinsame Abendessen war perfekt. Pierre war älter geworden, aber er schien ruhig, entspannt. Er verhielt sich wieder so höflich und distanziert wie früher. Er sprach vom Schicksal der afrikanischen Kinder, die gelähmt seien von schrecklichen Krankheiten; man müsse Behandlungsmethoden für sie finden. Von den einstigen Alpträumen schien er tausend Meilen entfernt, und ich zweifelte immer noch an Marie-Annes Enthüllungen.
    Aber nach und nach begriff ich, daß Senicier tatsächlich wahnsinnig war. Er war innerlich zerfressen vor Wut, weil er in Afrika sein mußte. Weil seine Karriere zu Ende war.
    Er ertrug es nicht. Er, dem unerhörte, einzigartige Experimente gelungen waren, er war jetzt irgendein Entwicklungsarzt, der unter unmöglichen Bedingungen zu arbeiten hatte, der den Strom für seine Operationen aus benzinbetriebenen Generatoren bezog und seine Patienten in maniokstinkenden Fluren nur äußerst notdürftig behandeln konnte. Er konnte es nicht hinnehmen, und sein Zorn verwandelte sich in eine dumpfe Rachlust, die sich gegen ihn selbst und gegen seine Familie richtete.
    So betrachtete Sénicier seine beiden Söhne als Studienobjekte. An beiden hatte er umfangreiche Typisierungen vorgenommen, hatte sämtliche Blutgruppen und Gewebetypen bestimmt, Fingerabdrücke, Serumgruppen ... Er führte abscheuliche Experimente mit ihnen durch, die jedoch ausschließlich psychologischer Art waren, und dies völlig hemmungslos, auch vor vergleichsweise Fremden wie uns. Manchmal erlebte ich dramatische Szenen, die ich nie vergessen werde. Einmal waren wir zum Abendessen eingeladen. Sobald das Essen aufgetragen war, beugte Sénicier sich zu den beiden Jungen hinunter und flüsterte ihnen zu: >Seht euch euren Teller an, Kinder. Was, glaubt ihr, eßt ihr da?< Es war irgendein bräunliches Fleisch in Soße. Sénicier begann mit der Gabel hineinzustechen und wiederholte immer wieder: >Was ist das für ein Tier, das ihr heute abend eßt? Die kleine Gazelle? Das kleine Schweinchen? Den Affen? Und stach weiter in die Fleischstücke, die im Licht der schwankenden Stromversorgung glänzten, und ließ sie nicht in Ruhe, bis den entsetzten Kindern die Tränen über die Backen rannen. Sénicier aber hörte nicht auf. >Am Ende ist es was ganz anderes. Man weiß ja nie, was die Neger hierzulande essen. Vielleicht gibt es heute abend .< Die Kinder flohen in Panik, Marie-Anne war zu Stein erstarrt. Senicier grinste. Er wollte seinen Kindern einreden, sie seien Kannibalen - sie äßen jeden Abend Menschenfleisch.
    Unter Schmerzen und Elend wuchsen die Kinder heran. Mir erschienen sie völlig neurotisch. Der Ältere entwickelte eine regelrechte Paranoia. 1965, mit acht Jahren, hatte sein monströser Vater ihn endgültig

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