Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
ganzen Körper lag das Fleisch bloß und schmerzte höllisch. Damals sah ich zum erstenmal die Vögel, weiße Vögel durch die schmutzigen Fensterscheiben. Ich war nur halb bei Bewußtsein und hielt sie für Engel. Ich dachte, jetzt bin ich im Paradies, und die Engel nehmen mich in Empfang. Aber ich spürte meinen Körper nach wie vor, und ich war nach wie vor in derselben Hölle. Es war einfach bloß Frühling geworden, und die Störche waren zurückgekehrt. Während der ganzen Zeit, in der Krankenstation und danach, beobachtete ich sie. Es waren mehrere Paare, und sie nisteten ausgerechnet auf den Wachtürmen. Wie soll ich’s dir erklären? Sie waren so wunderschön, diese Vögel, eine strahlende Pracht über soviel Elend, soviel Grausamkeit. Ihr Anblick hat mir Mut gemacht. Mit der Zeit kam ich ihnen auf die Schliche - ich sah, wie die Eltern abwechselnd brüteten, ich sah die kleinen schwarzen Schnäbel der Jungen, ihre ersten Flugversuche, und im August den großen Aufbruch ... Vier Jahre lang gaben mir die Störche jedes Frühjahr von neuem die Kraft zu leben. Meine Alpträume waren immer noch da, sie steckten mir tief unter der Haut, aber die weißen Vögel vor dem blauen Himmel waren das Seil, an das ich mich klammerte. Ein armseliges Seil, das kannst du mir glauben. Aber ich hab’ meine Strafe abgesessen. Hab’ geschuftet wie ein Hund, unter den Stiefeln der Russen und den Schreien der Jungs, die gefoltert wurden, hab’ Dreck gefressen mit den anderen und bin im Eis fast erfroren. Aber ich hab’ dort auch Französisch gelernt, von einem Mitgefangenen, einem kommunistischen Aktivisten, von dem keiner wußte, wie er hierhergekommen war. Nach meiner Entlassung trat ich in die Partei ein und kaufte mir ein Fernglas.« Unterdessen war die Nacht hereingebrochen. Die Störche waren nicht aufgetaucht - nur in Joros Erinnerung. Wortlos gingen wir zum Wagen zurück. Entlang den Feldern zitterten die Stacheln an den gewundenen Drahtzäunen und bildeten phantastische Muster.
    Am 25. August trafen die ersten markierten Störche in Bratislava ein. Ich hatte am späten Nachmittag die Argos- Daten abgefragt und festgestellt, daß zwei Vögel fünfzehn Kilometer westlich von Sarovar gelandet waren.
    Joro war skeptisch, aber immerhin bereit, auf der Karte nachzusehen. Er kannte den Ort: ein Tal, wo sich, wie er sagte, noch nie zuvor ein Storch niedergelassen hatte. Gegen neunzehn Uhr waren wir beim Teich angelangt und fuhren weiter, während wir aufmerksam den Himmel und die Umgebung absuchten. Keine Spur von einem Vogel. Joro grinste vor sich hin. In den fünf Tagen, die wir nach den Vögeln Ausschau hielten, hatten wir lediglich ein paar kleine Schwärme gesichtet, aber so weit entfernt und so undeutlich, daß es genauso gut Milane oder andere Raubvögel hätten sein können. An diesem Abend mit Hilfe des Satelliten und meines Computers tatsächlich Störche zu entdecken hätte Joro Grybinski regelrecht gekränkt.
    Und doch murmelte er auf einmal: »Da sind sie.« Ich hob den Blick und sah einen gewaltigen Schwarm von Störchen, der vor dem dunkelroten Himmel kreiste. Nach und nach ließen sich etwa hundert Vögel auf den verstreuten Tümpeln im Sumpf nieder. Joro lieh mir sein Fernglas, und ich beobachtete die Vögel, die sich mit gerecktem Schnabel und wachsamem Blick im Gleitflug absinken ließen. Es war großartig. Endlich wurde mir klar, welche ungeheure Leistung ihre geflügelte Reise darstellte, die sie bis nach Afrika führen würde. In dieser schwerelosen und wilden Vogelhorde befanden sich also auch zwei markierte Störche. Eine unbändige Freude stieg in mir auf. Das Sendesystem funktionierte! Federgenau, sozusagen.
    Am 27. August erhielt ich abermals ein Fax von Dumaz. Er trete auf der Stelle, schrieb er. Mittlerweile habe er wieder seinen regulären Dienst antreten müssen, aber er führe nach wie vor häufige Telefonate mit Frankreich auf der Suche nach Afrikaveteranen, die Max Böhm möglicherweise gekannt hätten. Dumaz hatte sich in diese Fährte verbissen, überzeugt, daß Böhm dort unten in Afrika obskure Geschäfte betrieben hatte. Zum Abschluß nannte er den Namen eines Diplomlandwirts aus Poitiers, der zwischen 1973 und 1977 in Zentralafrika tätig gewesen sei. Dumaz schrieb, er habe die Absicht, nach Frankreich zu fahren und den Mann bei dessen Rückkehr aus dem Urlaub aufzusuchen.
    Am 28. August war es für mich Zeit zum Aufbruch. Zehn Störche hatten Bratislava hinter sich gelassen, und die

Weitere Kostenlose Bücher