Der Flug der Stoerche
seiner Breite wie ein Vorposten des heranmarschierenden Kapitalismus. Alle amerikanischen, europäischen und japanischen Geschäftsleute stiegen dort ab, schutzsuchend vor der sozialistischen Trostlosigkeit, als wären sie auf der Flucht vor der Lepra.
Unter grandiosen Kronleuchtern mitten in der Halle erwartete mich Marcel Minaus. Unverkennbar. »Ich bin bärtig und habe einen spitzen Kopf«, hatte er mir gesagt. Aber er übertraf sämtliche Erwartungen: Marcel war eine wandelnde Ikone. Sehr groß und massig, kam er auf mich zu wie ein Bär, vornübergebeugt, die Füße einwärts gedreht, mit hängenden Armen. Ein wahres Gebirge, auf dem der Kopf eines orthodoxen Patriarchen thronte, mit ellenlangem Bart und königlicher Nase. Die Augen allein waren ein Gedicht: eine grüne, leichte Helligkeit zwischen tiefen Schattenrändern, und glühend, wie erfüllt vom alten Glauben der Balkanvölker. Und dann der Schädel, einer Mitra gleich: völlig kahl und himmelwärts gerichtet wie zum Gebet.
»Gute Reise gehabt?«
»Mehr oder weniger«, sagte ich und vermied es, ihm die Hand zu reichen. »Seit der Grenze regnet es. Ich hab’ mich bemüht, meine Geschwindigkeit halbwegs beizubehalten, aber wegen der vielen Pässe und der aufgerissenen Straßen .«
»Wissen Sie, wenn ich verreise, dann ausschließlich mit dem Bus.«
Ich gab mein Gepäck an der Rezeption ab und betrat mit meinem Begleiter das Hauptrestaurant des Hotels. Marcel hatte schon gegessen, war aber mit Freuden bereit, mir noch einmal Gesellschaft zu leisten. Marcel Minaus, seinem Paß nach Franzose, vierzig Jahre alt, war eine Art intellektueller Nomade, ein hochtalentierter Linguist, der eine Unmenge von Sprachen fließend beherrschte: Polnisch, Bulgarisch, Ungarisch, Tschechisch, Serbisch, Kroatisch, Makedonisch, Albanisch, Griechisch . und natürlich Romani, die Sprache der Zigeuner. Romani war überhaupt sein Spezialgebiet. Er hatte mehrere Bücher darüber geschrieben und ein Lehrbuch für Kinder verfaßt, auf das er sehr stolz war. Als herausragendes Mitglied zahlreicher Vereine von Finnland bis zur Türkei reiste er von einer Konferenz zur nächsten und hielt sich als Gast wissenschaftlicher Institutionen in Städten wie Warschau oder Bukarest auf.
Kurz vor Mitternacht hatten wir unser Mahl beendet. Von den Störchen war praktisch nicht die Rede gewesen, Minaus hatte lediglich Näheres über das Satellitenexperiment wissen wollen. Er verstehe nichts von Störchen, sagte er, versprach mir aber, mich am nächsten Tag mit Rajko Nikolitsch bekannt zu machen - »dem besten Ornithologen auf dem Balkan«, behauptete er.
Es schlug Mitternacht. Ich verabredete mich mit Marcel für den nächsten Morgen um sieben Uhr in der Hotelhalle: ich wolle einen Wagen mieten, sagte ich, und mit ihm nach Sliven fahren, wo Rajko Nikolitsch wohnte. Minaus war entzückt und freute sich auf den Ausflug. Dann ging ich hinauf in mein Zimmer, wo mich eine Nachricht erwartete; man hatte sie unter der Tür durchgeschoben. Es war ein Fax von Dumaz.
Von: Hervé Dumaz An: Louis Antioche Sheraton Sofia Hotel Balkan Montreux, 29. August 1991, 22.00 Uhr
Lieber Louis,
habe heute einen anstrengenden Tag in Frankreich verbracht, aber die Reise hat sich gelohnt. Ich habe endlich den Mann getroffen, den ich suchte. Michel Guillard, Diplomlandwirt, 56.
Vier Jahre Farm in Zentralafrika. Vier Jahre Regenwald, Kaffeeplantagen und - Max Böhm! Ich habe Guillard bei sich zu Hause in Poitiers überrascht, frisch aus dem Urlaub zurückgekehrt. Mit seiner Hilfe konnte ich Böhms Afrikaaufenthalte ziemlich detailliert rekonstruieren. Hier die Fakten:
August 1972. Max Böhm trifft mit Frau und Sohn in Bangui ein, der Hauptstadt von Zentralafrika. Die politische Situation des Landes, die Diktatur eines Bokassa, der sich zum >Präsidenten auf Lebenszeit< proklamiert hat, kümmert ihn offenbar nicht. Böhm hat ganz anderes erlebt, er kommt aus den afrikanischen Diamantenminen, wo die Männer nackt arbeiten und sich nach jedem Arbeitstag röntgen lassen müssen, um zu beweisen, daß sie keine Diamanten verschluckt haben. Max Böhm bezieht ein herrschaftliches Haus und macht sich an die Arbeit: zuerst als Bauleiter bei der Errichtung eines großen Wohnhauses, eines Bokassa-Projekts namens >Pacificjue 2<. Bokassa ist beeindruckt und bietet ihm weitere Jobs an. Böhm akzeptiert.
1973: Ein paar Monate lang bildet er eine Sicherheitstruppe aus, deren Zweck die Überwachung der Kaffeeplantagen in Lohaye
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