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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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antwortete ich leichthin und zeigte ihm meine Hände - diese monströsen Hände mit den verhornten Nägeln, ein Überrest aus dem schwarzen Loch meiner Vergangenheit.
    Joro beugte sich zu mir herüber und musterte aufmerksam die Narben. Er stieß einen kleinen Pfiff aus, halb bewundernd, halb mitleidig.
    »Meine Güte, was ist dir denn da passiert?« fragte er leise.
    »Das war auf dem Land, als ich noch ganz klein war«, log ich. »Eine Petroleumlampe ist mir zwischen den Händen explodiert.«
    Joro richtete sich wieder auf. »Meine Güte«, wiederholte er. Ich hatte mir angewöhnt, verschiedene Lügen über den Unfall zu erzählen, und diese Gewohnheit war mir fast zur Manie geworden - meine Methode, auf die Neugier der anderen zu reagieren und meine eigene Verlegenheit zu kaschieren. Aber Joro setzte dumpf hinzu: »Ich hab’ auch meine Narben.«
    Er drehte seine halb gelähmten Hände um: über die Handflächen zogen sich scheußliche Wülste. Mit Mühe öffnete er die oberen Hemdknöpfe und zeigte mir seinen Oberkörper, der von denselben Verletzungen gezeichnet war - ein Netz aus Leiden, in regelmäßigen Abständen unterbrochen durch größere, hellrote Punkte. Ich warf ihm einen fragenden Blick zu und begriff, daß er gewillt war, seine Geschichte preiszugeben - das Geheimnis, dessen Spuren er am Körper trug. In düsterem Ton hielt er einen Vortrag in perfektem Französisch, und mir kam vor, als hätte er die Sprache eigens gelernt, um von seinem Schicksal berichten zu können.
    »Als die Truppen des Warschauer Pakts 1968 in die Tschechoslowakei einmarschierten, war ich zweiunddreißig. So alt wie du. Die Invasion war für mich das Ende einer Hoffnung - das Ende des Sozialismus mit menschlichen
    Zügen. Damals lebte ich mit meiner Familie in Prag. Ich erinnere mich noch, wie die Erde bebte, als die Panzer durch die Stadt rollten. Ein furchtbares Dröhnen war das, ein dumpfes Donnergrollen, wie von unterirdischen Eisenmassen, die sich heranwälzten. Ich erinnere mich an die ersten Schüsse, an die Schläge mit Gewehrkolben, die Verhaftungen. Ich glaubte es nicht. Unsere Stadt, unser Leben, das alles hatte auf einmal keinen Sinn mehr. Die Menschen verkrochen sich in ihren Häusern. Der Tod, die Angst beherrschten unsere Straßen und unsere Köpfe. Zuerst leisteten wir Widerstand - vor allem die jungen Leute. Aber die Panzer zermalmten uns zu Brei, unsere Körper und unseren Aufstand. Deshalb beschlossen meine Familie und ich, eines Nachts über Bratislava in den Westen zu fliehen. Es schien uns machbar. Verstehst du - so nah an Österreich!
    Meine beiden Schwestern wurden erschossen, nachdem sie den Stacheldraht an der Grenze bereits überwunden hatten. Meinen Vater traf eine Maschinengewehrsalve in den Kopf, das halbe Gesicht war weg, zusammen mit seiner Mütze. Und meine Mutter ist im Stacheldraht hängengeblieben. Ich versuchte sie zu befreien, aber es war unmöglich. Sie brüllte und wand sich wie verrückt, und je mehr sie sich bewegte, desto tiefer drangen die Stacheln durch ihren Mantel ins Fleisch - und die Kugeln pfiffen über unsere Köpfe hinweg. Ich zog mit beiden Händen an diesem Scheißdraht, blutig von oben bis unten. Ihr Schreien werde ich meiner Lebtage nicht vergessen.«
    Joro zündete sich umständlich eine Zigarette an. Er hatte gewiß schon seit Jahren nicht mehr über diese grauenhaften Ereignisse gesprochen. »Die Russen nahmen uns fest. Meine Mutter habe ich nie wiedergesehen. Ich selber verbrachte vier Jahre in einem Arbeitslager. Vier Jahre Qual in Kälte und Dreck, die Hacke in der Hand. Ich dachte ständig an meine Mutter, an den Stacheldraht, ich war wie verrückt. Ich lief den Stacheldrahtzaun im Lager entlang, faßte mit beiden Händen das Eisen an, das meine Mutter zerfleischt hatte. Meine Schuld, dachte ich. Alles meine Schuld. Und ich preßte die Faust um die Stacheln, bis mir das Blut zwischen den Fingern herausrann. Eines Tages habe ich ein Stück Stacheldraht gestohlen und mir eine Armbinde daraus gemacht, die ich unter der Jacke trug. Bei jeder Bewegung, jedem Hieb mit der Hacke bohrten sich mir die Stacheln ins Fleisch. Das war meine Buße. Nach ein paar Monaten habe ich mir den ganzen Körper damit eingewickelt. Ich konnte bald nicht mehr arbeiten und mich nicht mehr rühren, die Risse entzündeten sich. Schließlich fiel ich um. Ich war von Kopf bis Fuß eine einzige Wunde, eine Schwäre voller Blut und Eiter.
    Erst nach Tagen wachte ich im Krankenbau wieder auf. Am

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