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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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schnellsten von ihnen - die einen Schnitt von hundertfünfzig Kilometern am Tag schafften - würden schon bald in Bulgarien sein. Mein Problem bestand jetzt darin, über Land exakt ihrer Route zu folgen: sie überquerten das ehemalige Jugoslawien, wo die ersten Unruhen ausgebrochen waren. Ich studierte die Karte und beschloß, das Pulverfaß zu meiden und statt dessen durch Rumänien entlang der serbischen Grenze zu fahren - schließlich besaß ich ein rumänisches Visum. Bei einer Kleinstadt namens Calafat wollte ich die Grenze nach Bulgarien überqueren und von hier aus direkt Sofia ansteuern. Ich hatte eine Strecke von etwa tausend Kilometern vor mir, die ich - unter Berücksichtigung von Wartezeiten an den Grenzen und dem Zustand der Straßen - in eineinhalb Tagen zu bewältigen hoffte.
    Also reservierte ich am Morgen dieses Tages im Sheraton von Sofia ein Zimmer für den folgenden Abend und rief danach einen gewissen Marcel Minaus an, einen in Bulgarien ansässigen Franzosen, der ebenfalls auf Böhms Liste stand. Minaus war kein Ornithologe, sondern Sprachwissenschaftler, und sollte mir helfen, mit dem bulgarischen Storchexperten Kontakt aufzunehmen: Rajko Nikolitsch. Nach mehreren fruchtlosen Versuchen kam die Verbindung zustande; ich sprach mit Minaus, der sehr entgegenkommend war. Ich verabredete mich mit ihm für den nächsten Abend um zweiundzwanzig Uhr in der Hotelhalle. Dann legte ich auf, schickte Dumaz per Fax meine neue Adresse und packte meine Sachen. Nachdem ich auch noch die Hotelrechnung bezahlt hatte, machte ich mich auf den Weg nach Sarovar, um mich von Joro Grybinski zu verabschieden. Wir machten nicht viele Worte, sondern tauschten lediglich unsere Adressen aus, und ich versprach, ihm eine Einladung zu schicken, ohne die er in Frankreich nicht einreisen durfte.
    Ein paar Stunden später war ich in Ungarn. Zu Mittag, kurz vor Budapest, hielt ich an einer Autobahnraststätte und aß einen abscheulichen Salat im Schatten der Zapfsäule. Ein paar Mädchen, blond und leicht wie reife Weizenkörner, musterten mich mit entrüstetem Stolz. Dunkle, dichte Augenbrauen, breite Kiefer, helles Haar: diese jungen Mädchen stimmten so sehr mit der Klischeevorstellung überein, die ich mir von den osteuropäischen Schönheiten zurechtgelegt hatte, daß ich aus der Fassung geriet. Ich war immer ein überzeugter Feind von vorgefaßten Meinungen und Gemeinplätzen gewesen. Ich wußte nicht, daß die Welt oft leichter zu durchschauen ist, als man denkt, und ihre Wahrheiten, so banal sie auch sein mögen, dennoch einleuchtend und lebendig sind. Merkwürdigerweise empfand ich darüber eine plötzliche Aufregung, einen freudigen Schauder. Um ein Uhr mittags machte ich mich wieder auf den Weg.

9
     
    Am Abend des nächsten Tages traf ich bei strömendem Regen in Sofia ein. Schmutzige und baufällige Ziegelgebäude säumten die Straßen, die voller Schlaglöcher waren. Auf nassem Kopfsteinpflaster holperten die Ladas, gerieten ins Schleudern und hüpften mitunter wie altmodisches Spielzeug; oft schafften sie es nur mit Mühe, den Straßenbahnen auszuweichen, die allgegenwärtig waren und die eigentlichen Helden der Straße: mit ohrenbetäubendem Getöse tauchten sie aus dem Nichts auf und schickten blaue Blitze in den Gewitterhimmel. Durch die Fenster sah ich, wie die trübe gelbe Beleuchtung auf den verschlossenen Gesichtern der Passagiere flackerte und schließlich erlosch, und diese sonderbaren Wagen erschienen mir fast wie der Schauplatz eines makabren Experiments - eines kollektiven Elektroschocks, bleich und unheimlich, vorgenommen an blutleeren Versuchspersonen.
    Ich fuhr aufs Geratewohl durch die Stadt, ohne zu wissen, wohin. Sämtliche Hinweisschilder waren ausschließlich in kyrillischer Schrift. Mit der rechten Hand wühlte ich in meiner Tasche, bis ich den Reiseführer fand, den ich in Paris erstanden hatte, aber während ich noch blätterte, stellte ich fest, daß ich unversehens auf dem Leninplatz gelandet war. Ich sah mich um. Die Architektur wirkte auf mich wie eine im Sturm errichtete Hymne. Auf allen Seiten erhoben sich strenge, mächtige Gebäude mit winzigen Fenstern. Dazwischen ragten schlanke Türme mit quadratischer Grundfläche auf, die oben spitz zuliefen und von vielen Schießscharten durchbrochen waren. Ihre unnatürlichen Farben leuchteten trüb in die hereinbrechende Nacht. Rechter Hand duckte sich eine schwärzliche Kirche, und links von mir prangte das Sheraton Sofia Hotel Balkan in all

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