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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Sicherheit weiß man nur eins: daß das Herz gestohlen wurde. Die Regionalzeitungen haben sich natürlich auf den Fall gestürzt und irgendwelche Märchen verbreitet. Geschichten über Hexerei, Schwarze Magie. Und Schlimmeres.« Markus legte eine vielsagende Pause ein, während er seine Zigarette ausdrückte. Er blickte Marcel scharf ins Auge. »Du weißt, wovon ich spreche.«
    Ich begriff seine Anspielung natürlich nicht, und Marcel schob freundlicherweise einen Exkurs auf französisch ein, in dem er mir erklärte, die Roma stünden seit Jahrhunderten in dem Ruch des Kannibalismus.
    »Die Vorstellung von den Zigeunern als Menschenfressern und Kindermördern ist ein abwegiges Hirngespinst«, sagte Marcel. »Aber die Tatsache, daß Rajkos Herz verschwunden ist, hat natürlich einen uralten Aberglauben Wiederaufleben lassen.«
    Ich warf Markus einen raschen Blick zu. Er zuckte nicht mit der Wimper. Statt dessen hatte er sich eine neue Zigarette angezündet und rauchte schweigend.
    »Seit Jahren«, fuhr er nach einer Weile fort, »kämpfe ich darum, unser Image zu verbessern. Aber mit einem Schlag sind wir wieder mitten ins finsterste Mittelalter zurückgefallen! Daran sind übrigens alle schuld. Verstehen Sie mich nicht falsch, Herr Antioche. Das ist kein Zynismus. Ich denke einfach nur an die Zukunft«, sagte er theatralisch und setzte alle zehn Finger krakenartig auf das Tischtuch. »Ich kämpfe für die Verbesserung unserer Lebensbedingungen, für unser Recht auf Arbeit.«
    In der Region um Sliven war Markus Lasarewitsch eine politische Figur, er war der Kandidat der Roma schlechthin - was ihm erhebliche Macht verlieh. Marcel hatte mir erzählt, wie Lasarewitsch mit wiegendem Gang durch die Ghettos von Sliven schritt, gefolgt von einer Horde dunkelhäutiger zerlumpter Gestalten, die sich voller Begeisterung an seinen feinen Anzugstoff klammerten. Ich stellte mir seine verkniffene Miene vor angesichts dieser potentiellen Wählerschaft voller Dreck und Gestank. Doch trotz seines unverhohlenen Abscheus mußte er den Roma schmeicheln: das war der Preis seiner politischen Ambitionen - und Rajkos Tod war ein nicht zu übersehener Stein in seinem Garten.
    Lasarewitsch stellte die Situation auf seine Weise dar: »Dieser Vorfall hat viele unserer Bemühungen zunichte gemacht, insbesondere auf sozialer Ebene. Zum Beispiel hatte ich mit Hilfe einer humanitären Organisation medizinische Zentren in den Ghettos eingerichtet.«
    »Was für einer Organisation?« fragte ich nervös.
    »Monde Unique.« Markus nannte sie bei ihrem französischen Namen und wiederholte dann auf englisch: »One World.«
    Monde Unique. Es war das dritte Mal innerhalb weniger Tage und im Abstand von vielen hundert Kilometern, daß ich diesen Namen hörte.
    »Aber jetzt sind die jungen Ärzte wieder abgereist«, fuhr Markus fort. »Wegen einer dringenden Mission, sagten sie. Es würde mich allerdings nicht wundern, wenn sie einfach die Schnauze voll hätten von unseren ständigen Reibereien, unserer Weigerung, uns anzupassen, unserer Verachtung für die gadsche. Meiner Meinung nach hat Rajkos Tod ihnen endgültig die Lust verdorben.«
    »Sind die Ärzte unmittelbar nach seinem Tod abgereist?«
    »Nein, nicht direkt. Im Juli haben sie Bulgarien verlassen.«
    »Und worin bestand ihre Tätigkeit?«
    »Sie versorgten die Kranken, impften die Kinder, verteilten Medikamente. Sie hatten ein Analyselabor und waren ausgerüstet für kleinere chirurgische Eingriffe.« Mit der Miene dessen, der sich auskennt, rieb Markus Daumen und Zeigefinger aneinander: »Es steckt viel Geld hinter dieser Organisation. Sehr viel Geld.«
    Markus bezahlte die Rechnung und brachte die Rede auf den fehlgeschlagenen Staatsstreich in Moskau, zehn Tage zuvor. In seiner Vorstellung war anscheinend alles Teil eines einzigen, umfassenden politischen Programms, in dem jeder Bestandteil eine spezifische Rolle spielte. Das Elend der Roma, der Mord an Rajko, der Niedergang des Sozialismus bildeten in seinen Augen eine logische Entwicklung, die - wie könnte es anders sein - in der Wahl von Markus Lasarewitsch münden mußte.
    Als wir vor dem Restaurant standen, befühlte er das Revers meines Jacketts und erkundigte sich nach dem Preis des Volkswagens in Dollar. Ich nannte ihm eine astronomische Summe, einzig wegen des Vergnügens, sein Gesicht dabei zu beobachten: es war das erste Mal, daß er die Miene verzog. Ich stieg in den Wagen und schlug die Tür zu. Er beugte sich zu meinem Fenster

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