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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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hatte sie etwas von einem merkwürdigen und fremdartigen Volksfest, dessen Attraktionen zwischen Ausgelassenheit und Unheimlichkeit ständig wechselten.
    Marcel trat zu mir heraus. »Geht’s besser?« fragte er und klopfte mir auf die Schulter.
    »Geht schon.«
    Er lachte nervös auf. »Dich will ich jedenfalls nicht als Partner für mein Zigeunerrestaurant!«
    »Tut mir leid, Marcel«, antwortete ich. »Ich hätte es dir sagen sollen. Schon der Anblick eines blutigen Steaks verursacht mir Brechreiz.«
    »Vegetarier?«
    »Am liebsten, ja.«
    »Ist nicht weiter schlimm.« Er ließ seinen Blick über die dämmrige Stadt schweifen, dann wiederholte er, leiser: »Ist nicht weiter schlimm. Ich hatte auch keinen rechten Appetit. Dieses Restaurant war keine gute Idee.«
    Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Rajko war ein Freund von mir, Louis. Ein guter, herzlicher, hochanständiger Freund, ein wunderbarer junger Mann, der den Wald besser als irgend jemand sonst kannte und für jede Pflanze die besten Stellen wußte. Er war das Hirn der Familie Nikolitsch und ist als Sammler unersetzlich für sie.«
    »Wie kommt es, daß du so lang nichts von ihm gehört hast? Wieso hat dich niemand von seinem Tod benachrichtigt?«
    »Im Frühjahr war ich in Albanien. Dort kündigt sich eine schreckliche Hungersnot an. Ich versuche, die französische Öffentlichkeit zu mobilisieren. Und was Marin und die anderen angeht - weshalb hätten sie mich benachrichtigen sollen? Sie waren starr vor Entsetzen. Und schließlich bin ich bloß ein gadscho.«
    »Was denkst du über Rajkos Tod?«
    Marcel zuckte die Schultern. Er schwieg eine Weile, als wollte er seine Gedanken ordnen.
    »Ich hab’ keine Erklärung. Die Roma leben in einer Welt der Gewalt. Schon innerhalb der Sippe herrscht Gewalttätigkeit. Das Messer sitzt locker bei ihnen, und noch lockerer sitzt die Faust. Eine Rabaukenmentalität. Aber viel schlimmer ist die Gewalt von außen, die Gewalt der gadsche, die nie aufhört. Und heimtückisch ist. Sie verfolgt die Zigeuner überall auf der Welt, und das seit Jahrhunderten. Ich habe so viele Elendsviertel am Rand der Großstädte in Bulgarien, Jugoslawien, der Türkei kennengelernt. Aneinandergedrängte Baracken im Dreck, in denen Familien ohne Beruf und ohne Zukunft leben und gegen den Rassismus kämpfen, der ihnen keine Ruhe läßt. Manchmal sind es direkte, brutale Angriffe. Dann wieder ist das System raffinierter und funktioniert mittels Gesetzen und legalen Schikanemaßnahmen. Aber das Resultat ist immer dasselbe: Roma raus! Ich hab’ so viele
    Vertreibungen miterlebt, mit Hilfe von Polizei, Bulldozern, Brandstiftung . Ich habe Kinder dabei umkommen sehen, Louis, in den Trümmern der Baracken, in brennenden Wohnwagen. Die Roma, das ist die Pest, die Seuche, die ausgerottet werden muß. Also, was ist mit Rajko passiert? Offen gestanden, ich weiß es nicht. Vielleicht war es ein rassistisches Verbrechen. Oder eine Warnung, um die Roma aus der Gegend zu verjagen. Oder eine infame Strategie, um sie in Mißkredit zu bringen. Auf jeden Fall war Rajko das unschuldige Opfer einer scheußlichen Geschichte.«
    Ich hörte aufmerksam zu und nahm die Informationen zur Kenntnis. Möglicherweise stand diese scheußliche Geschichte< in keinem Zusammenhang mit Max Böhm und seinen Geheimnissen. Ich wechselte das Thema:
    »Was hältst du von Monde Unique?«
    »Den Ghettoärzten? Sie sind großartig. Verständnisvoll und engagiert. Es ist das erste Mal, daß jemand den bulgarischen Roma wirklich zu Hilfe kommt.« Marcel drehte sich zu mir um. »Aber du, Louis, was hast du mit der Sache zu schaffen?
    Bist du wirklich Vogelkundler? Was ist das für eine merkwürdige Geschichte, die du Marin erzählt hast? Was haben die Störche damit zu tun?«
    »Das weiß ich alles selber nicht. Ich hab’ dir was verschwiegen, Marcel: Max Böhm hat mich beauftragt, den Störchen nachzureisen. Inzwischen ist der Mann gestorben, und seit seinem Tod häufen sich die Rätsel. Mehr kann ich dir nicht sagen, aber eins ist sicher: dieser Ornithologe war nicht ganz koscher.«
    »Und wieso hast du den Auftrag angenommen?«
    »Weil ich zehn Jahre nur studiert habe, wie ein Verrückter, und diese zehn Jahre haben mir für den Rest meines Lebens die Lust an jeglicher intellektueller Beschäftigung verleidet. Zehn Jahre lang hab’ ich nichts erlebt, nichts gesehen als Bücher. Ich wollte Schluß machen mit dieser geistigen Masturbation, die eine schreckliche Leere im Bauch

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