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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Verfügung zu stellen, damit er eine Autopsie durchführen könne. Seine Bitte war abgelehnt worden. Kein Platz für einen Zigeuner. Auch nicht für einen toten. Also war der Wohnwagen zu einer Poliklinik auf dem Land weitergefahren. Auch hier wies man ihn ab. Schließlich begab sich der Konvoi zu einer alten, heruntergekommenen Turnhalle, die man den Roma abgetreten hatte. Dort, im säuerlichen Schweißgeruch unter Basketballkörben und Sprossenwänden, hatte Djuric die Autopsie vorgenommen. Dort hatte er entdeckt, daß das Herz fehlte. Er hatte einen ausführlichen Bericht geschrieben und der Polizei den Fall gemeldet, die ihn zu den Akten legte. Bei den Roma war niemand empört oder auch nur erstaunt über diese Gleichgültigkeit; die Zigeuner sind derlei gewöhnt. Nein, was den alten Roma in Wahrheit quälte, war etwas ganz anderes: er wollte um jeden Preis herausfinden, wer seinen Schwiegersohn umgebracht hatte. An dem Tag, an dem er den Namen der Mörder erfuhr, würde die Sonne auf der Klinge seines Messers aufblitzen.
    Vor unserem Aufbruch war noch etwas Merkwürdiges geschehen. Mariana war auf mich zugetreten und hatte mir wortlos und verstohlen ein abgegriffenes Heft in die Hand gedrückt. Ich brauchte freilich nur einen Blick darauf zu werfen, um zu erkennen, was das war: Rajkos persönliches Notizbuch, in dem er seine Beobachtungen und Theorien im Zusammenhang mit den Störchen festhielt.
    Ich ließ das wertvolle Dokument sofort im Handschuhfach verschwinden.
    Zu Mittag waren wir in Sliven, einer Industriestadt, nichtssagend wie alle anderen. Durchschnittliche Größe, durchschnittliche Gebäude, durchschnittliche Trostlosigkeit. Diese Mittelmäßigkeit schien wie ein feiner Mineralstaub über den Straßen zu hängen und sich an die Fassaden, die Gesichter der Menschen zu heften. Marcel hatte eine Verabredung mit Markus Lasarewitsch getroffen, einer prominenten Persönlichkeit in der Welt der Zigeuner. Wir sollten mit ihm zu Mittag essen, obwohl uns nach den jüngsten Ereignissen nicht der Sinn danach stand, aber es war zu spät, um jetzt noch abzusagen.
    Wir aßen ohne Appetit, und niemand hatte Lust, länger als nötig am Tisch zu verweilen. Markus Lasarewitsch war ein Schönling, einen Meter neunzig groß, sehr dunkelhäutig, mit goldenem Armband und Goldkette um den Hals. Das Musterbeispiel des erfolgreichen Roma, der Geschäfte macht und Millionenbeträge umsetzt. Ein Mensch, der schmeichlerisch und hinterhältig wirkte, wie gepolstert mit Samt und Tücke.
    »Sehen Sie«, sagte er auf englisch, während er eine lange Zigarette mit Goldfilter rauchte, »ich war sehr betrübt über Rajkos Tod. Aber diese Dinge werden sich nie ändern. Immer dieselbe Gewalttätigkeit, immer dieselben undurchschaubaren Geschichten.«
    »Sie meinen also«, fragte ich, »daß es sich hier um eine sippeninterne Abrechnung handelt?«
    »Das habe ich nicht gesagt. Vielleicht war es ein Schlag, den die Bulgaren geführt haben. Tatsache ist aber, daß bei den Roma immer noch das Gesetz der Blutrache herrscht. Alte Konflikte sterben nie aus. Immer ist irgendein Haus anzuzünden, muß man irgendeinem schlechten Ruf gerecht werden. Ich sag’ es Ihnen ganz offen - ich bin selber ein Roma.«
    »Herrgott, wie kannst du so reden?« fuhr Marcel dazwischen. »Weißt du überhaupt, unter welchen Umständen Rajko gestorben ist?«
    »Genau das ist es, Marcel«, antwortete Lasarewitsch gelassen und streifte ein wenig Asche von seiner Zigarette. »Ein bulgarischer Strolch wäre mit einem Messer im Bauch in irgendeiner Gasse aufgefunden worden. Punkt, Ende. Aber ein Roma - niemals. Der muß im tiefsten Wald entdeckt werden, mit herausgerissenem Herzen. Hierzulande sind Aberglauben und Hexerei immer noch so tief verwurzelt, daß dieser Tod die Phantasie auf äußerst gefährliche Weise beflügelt hat.«
    »Rajko war kein Strolch«, gab Marcel zurück.
    Der Salat wurde aufgetragen - eingelegtes Gemüse, bestreut mit geriebenem Käse. Keiner rührte ihn an. Wir saßen in einem weiten leeren Speisesaal mit braunem Teppichboden und zahlreichen Tischen mit weißen Tüchern, jedoch ohne Gedecke oder sonst irgendeine Dekoration. Von der Decke hingen geschmacklose Lüster aus Glas herab, in denen sich ein trüber Abglanz der Sonne vor den Fenstern spiegelte. Alles schien bereit für ein großes Festmahl, das freilich nie stattfinden würde.
    Markus ergriff wieder das Wort: »Im Umkreis der Leiche hat man keine Spuren, keinerlei Hinweise gefunden. Mit

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