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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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schlicht zu reich, um unaufrichtig zu sein.
    Es war acht Uhr abends. Ich verfaßte rasch ein Fax an Hervé Dumaz, in dem ich ihm die furchtbaren Entdeckungen des Tages mitteilte, und schloß mit dem Versprechen, fortan selbst Nachforschungen über Max Böhms Vergangenheit anzustellen.
    An diesem Abend beschloß Marcel, Yeta und mich zum Essen auszuführen. Die Idee überraschte mich: schließlich kannten wir uns kaum ein paar Stunden. Aber Minaus liebte Kontraste - und er behauptete, wir brauchten alle Entspannung.
    Das Restaurant lag am Boulevard Ruski. Marcel spielte den Zeremonienmeister und fragte den Empfangschef - der in eine schmutzige weiße Smokingjacke eingeschnürt war -, ob die Terrasse geöffnet sei. Der Mann nickte und wies auf die Treppe: die Terrasse befand sich im ersten Stock. Oben betraten wir einen langgestreckten Raum mit braunem Teppichboden, einer Wandtäfelung aus Holzimitat, kupfernen Deckenleuchten; die Fenster, die auf den breiten Boulevard hinausgingen, standen weit offen, dennoch war die Luft erfüllt von intensiven Gerüchen, die mich auf der Hut sein ließen: gegrilltes Fleisch, Bratwürste, Räucherspeck .
    Wir nahmen Platz. Ich sah mich um, an den Nebentischen saßen Familien, die sich in gedämpftem Ton unterhielten, nur aus einer düsteren Ecke drang Lärm - dort gab sich eine Runde bulgarischer Zecher dem Arkhi hin, dem örtlichen Schnaps. Ich griff nach der englischen Speisekarte, während Marcel in lehrerhaftem Ton das Menü für seine Braut zusammenstellte. Ich betrachtete die beiden aus dem Augenwinkel - ihn mit seinem langen Bart und spitzen Schädel, sie, kerzengerade und reglos, verschreckte Blicke um sich werfend. Argwöhnisch spähte ihr Igelgesichtchen unter der grauen Mähne hervor. Was diese zwei Käuze miteinander verband, konnte ich mir nicht erklären. Seit dem Vorabend hatte die Romni kein Wort mehr gesprochen.
    Der Kellner erschien, und sogleich begann der Ärger. Den üblichen Salat aus Konservengemüse gab es nicht mehr. Es gab auch kein Auberginenpüree und keine turkia, die ein Gemüseeintopf gewesen wäre. Und Fisch gab es sowieso nicht. Entnervt fragte ich den Kellner, was die Küche dann zu bieten habe. »Ausschließlich Fleisch«, antwortete er mit einem unangenehmen Lächeln auf bulgarisch. Ich beschränkte mich also auf die Beilagen zum Steak, grüne Bohnen und Kartoffeln, und schärfte dem Kellner ein, daß ich auf keinen Fall Fleisch wolle. Marcel hielt mir einen Vortrag über meinen mangelnden Appetit und erging sich in weitschweifigen physiologischen Überlegungen.
    Eine halbe Stunde später kam mein Essen. Neben dem Gemüse lag ein großes Stück Fleisch, das gerade nur angebraten war und von Blut troff. Bei dem Anblick würgte mich der Ekel. Ich packte den Kellner bei der Jacke und befahl ihm, den Teller auf der Stelle wieder mitzunehmen. Der Mann sträubte sich, Gläser fielen um und rollten zu Boden, wo sie klirrend zerbrachen. Der Kellner begann mich zu beschimpfen und wurde seinerseits handgreiflich, wir standen beide und waren im Begriff, uns zu prügeln, als Marcel dazwischentrat und uns trennte. Der Kellner nahm fluchend den Teller wieder mit, während die Zecher im Hintergrund mir mit erhobenem Glas zuprosteten. Ich war wie von Sinnen und zitterte am ganzen Körper. Ich strich mein Hemd glatt und trat auf den Balkon hinaus, um mich wieder zu beruhigen.
    Über Sofia lag jetzt eine frische abendliche Kühle. Der Balkon ging auf den Narodno-Sabranie-Platz hinaus, auf dem das Parlamentsgebäude steht. Von hier aus konnte ich einen großen Teil der allmählich erleuchteten Stadt bewundern.
    Sofia liegt in einer Talsohle. Wenn der Abend hereinbricht, färben die Berge ringsum sich in zartem Blau, die Stadt hingegen, rot und braun, scheint in sich selbst zu versinken. Emporgerichtet, gequält, launisch, mit ihren stierblutfarbenen Gebäuden und kreideweißen Gemäuern, erschien mir Sofia, die Stadt im Herzen des Balkans, der Inbegriff von Stolz. Ich war überrascht von der Lebendigkeit und Vielfalt dieser Stadt, die so wenig mit den Klischeevorstellungen vom elenden Stumpfsinn der Ostblockländer übereinstimmte. Natürlich hatte auch sie ihr Quantum an grauen Wohnblocks, Tankstellen mit endlosen Warteschlangen und leeren Geschäften, aber gleichzeitig war sie hell und luftig, voller Freundlichkeit und voller Verrücktheiten. Mit dem allgegenwärtigen Flair von Improvisation, den orangefarbenen Straßenbahnen, dem bunten Durcheinander der Läden

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