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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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schlimm. Er hat sich nicht um seine Familie gekümmert, und das war schon schlimmer. Aber ich war ihm deswegen nicht böse. Das war seine Art. Es hat ihm keine Ruhe gelassen.« Marin griff in einen der Säcke und zog eine Blüte hervor. »Sieh dir die Blume an. Für uns ist sie bloß ein Mittel, um ein paar Lev zu verdienen. Für ihn war sie eine Frage, ein Geheimnis. Also studierte er, las, beobachtete. Rajko war ein wirklicher Gelehrter. Er kannte die Namen und die Kräfte aller Pflanzen, aller Bäume. Mit den Vögeln war’s dasselbe. Vor allem mit denen, die im Frühjahr und im Herbst auf Wanderschaft gehen. Er hat über sie Buch geführt. Er schrieb an verschiedene gadsche in Europa. Ich glaube wohl, daß der Name, den du genannt hast, auch darunter war.«
    Rajko war also ebenfalls einer von Böhms Wachposten; auch von ihm hatte der Schweizer mir nichts erzählt. Ich tastete mich aufs Geratewohl vorwärts. Marin sprach weiter: »Deswegen erzähle ich dir die Geschichte. Du bist von derselben Art wie Rajko - der nachdenklichen Art.«
    Ich spähte zwischen Zweigen hindurch und sah Mariana an. Sie hielt großen Abstand zu ihrem Vater.
    »Aber Rajkos Tod hat mit deinen Vögeln nichts zu tun«, fuhr Marin fort. »Das war ein rassistisches Verbrechen, das zu einer anderen Welt gehört. Der Welt der Roma-Hasser.
    Es war im Frühjahr, Ende April, als wir uns wieder auf den Weg machten. Rajko hatte seine eigenen Gewohnheiten.
    Bereits im März setzte er sich aufs Pferd und kam hierher an den Rand der Ebene, um auf die Störche zu warten. Zu der Zeit lebte er allein im Wald. Ernährte sich von Wurzeln, schlief im Freien. Und wartete, bis wir kamen. Aber dieses Jahr kam uns niemand entgegen, um uns zu begrüßen. Wir haben die ganze Ebene abgesucht und den Wald durchkämmt, und schließlich hat einer von uns Rajko tief im Dickicht gefunden. Seine Leiche war schon längst kalt. Die Tiere hatten bereits angefangen, ihn aufzufressen. Noch nie hab’ ich so etwas gesehen. Rajko war nackt. Seine Brust war aufgeschlitzt, der Körper überall von Wunden und Rissen übersät, ein Arm und das Geschlecht praktisch abgerissen.«
    Mariana, kaum zu sehen im Schatten des Laubs, bekreuzigte sich.
    »Um einen derartigen Frevel begreifen zu können, Mann, muß man weit ausholen. Ich könnte dir einige Geschichten erzählen. Es heißt, wir stammten aus Indien, seien Abkömmlinge einer Kaste von Tänzern oder sonst was. Das ist alles ein großer Blödsinn. Ich werde dir sagen, wo wir herkommen: von den Menschenjagden in Bayern, den Sklavenmärkten in Rumänien, den Konzentrationslagern in Polen, wo die Nazis uns abgeschlachtet haben wie Versuchskaninchen. Ich werd’ dir was sagen, Mann. Ich kenne eine alte Romni, die viel gelitten hat im Krieg. Die Nazis haben sie sterilisiert, gefoltert. Die Frau hat überlebt. Vor ein paar Jahren hat sie erfahren, daß die deutsche Regierung den Opfern der Todeslager Geld zahlt. Um die Entschädigung zu bekommen, brauchte man sich bloß von einem Arzt untersuchen zu lassen - irgendwie beweisen, was einem angetan wurde. Die Frau geht also zur nächsten Poliklinik, um sich untersuchen zu lassen und die Bestätigung zu bekommen. Sie wartet eine Weile, dann geht die Tür auf, und wer kommt heraus? Der Arzt, der sie im Lager operiert hat. Die Geschichte ist wahr, Mann. Das war in Leipzig vor vier Jahren. Und die Frau war meine Mutter. Sie ist kurz danach gestorben, ohne einen Groschen gesehen zu haben.«
    »Aber«, fragte ich bestürzt, »was hat das mit Rajkos Tod zu tun?«
    Marcel übersetzte. Marin starrte mich aus seinen Augenritzen an und sagte: »Das fragst du? Verstehst du nicht, daß das Böse zurückgekehrt ist, Mann? Das Böse herrscht wieder auf dieser Erde.«
    Dann wandte Marin sich direkt an Marcel und hieb sich auf die Brust, während er sprach. Marcel zögerte mit der Übersetzung, er bat Marin zu wiederholen - was dieser tat, lauter und eindringlicher. Marcel schien seine Worte nicht zu verstehen. Endlich aber drehte er sich zu mir und flüsterte mit verschleierten Augen: »Die Mörder, Louis ... die Mörder haben Rajkos Herz gestohlen.«

11
     
    Auf dem Weg nach Sliven sprach keiner von uns ein Wort. Marin hatte uns noch weitere Einzelheiten berichtet: Nach der Entdeckung der Leiche hatten die Roma Dr. Djuric benachrichtigt, einen Zigeunerarzt, der mit seiner ambulanten Praxis das Ghetto in der Vorstadt von Sliven betreute. Milan Djuric hatte das Krankenhaus gebeten, ihm einen Saal zur

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