Der Flug der Stoerche
herab und fragte: »Eins habe ich nicht ganz verstanden. Weshalb, sagten Sie, sind Sie nach Bulgarien gekommen?« Während ich den Motor anließ, erklärte ich ihm mit knappen Worten die Sache mit den Störchen. »Oh, really?« fragte er voller Verachtung mit demonstrativem amerikanischem Akzent. Ich gab Gas und fuhr davon.
12
Um sechs Uhr abends waren wir wieder in Sofia, und ich rief sofort bei Dr. Milan Djuric an. Seine Frau, die ein wenig Englisch sprach, sagte mir, er halte bis zum Nachmittag des nächsten Tages Sprechstunde in Podliw. Ich nannte ihr meinen Namen und bat sie, ihm auszurichten, daß ich ihn am nächsten Tag gegen Abend besuchen wolle. Es sei mir äußerst wichtig, mit Dr. Djuric zu sprechen, fügte ich hinzu. Nach einigem Zögern gab mir seine Frau die Adresse und beschrieb mir den Weg dorthin. Ich legte auf und befaßte mich mit meinem nächsten Reiseziel: Istanbul.
Max Böhms Umschlag enthielt eine Zugfahrkarte Sofia - Istanbul samt Fahrplan. Jeden Abend gegen elf fuhr ein Zug in die Türkei. Der Schweizer hatte wahrlich an alles gedacht.
Ich grübelte über sein Naturell nach, dann fiel mir ein, daß ich ja jemanden kannte, der mir über ihn Auskunft geben konnte: Nelly Braesler. Schließlich war sie es, die mich mit Böhm zusammengebracht hatte. Ich nahm den Telefonhörer ab und wählte die Nummer meiner Adoptivmutter in Frankreich.
Nach etwa zehn Versuchen klappte die Verbindung. In weiter Ferne hörte ich ein mehrmaliges Läuten, dann ertönte Nellys schrille Stimme, die noch um einiges ferner klang.
»Hallo?«
»Hier ist Louis«, sagte ich kalt.
»Louis? Mein kleiner Louis, wo sind Sie denn?«
Der honigsüße, katzenfreundliche Tonfall war mir sofort wieder vertraut, und ich spürte, wie sich mir die Haare sträubten.
»In Bulgarien.«
»In Bulgarien! Und was machen Sie dort?«
»Ich arbeite für Max Böhm.«
»Ach, der arme Max! Ich habe es jetzt erst erfahren ... Ich hätte nicht gedacht, daß Sie trotzdem .«
»Böhm hat mich für eine Arbeit bezahlt. Ich halte mich an meine Verpflichtungen. Auch posthum.«
»Sie hätten uns Bescheid sagen können.«
»Es wäre viel eher an dir gewesen, Nelly, mich aufzuklären.« Ich duzte Nelly, während es für sie Ehrensache war, mich zu siezen. »Wer war Max Böhm? Was hast du gewußt über die Arbeit, die er mir angeboten hat?«
»Mein kleiner Louis, Ihr Tonfall erschreckt mich. Max Böhm war einfach ein Ornithologe. Wir haben ihn bei einem Ornithologenkongreß kennengelernt. Sie wissen doch, daß Georges sich für solche Sachen interessiert. Max war uns sehr sympathisch. Außerdem ist er viel herumgekommen. Wie waren sogar in denselben Ländern und .«
»Zum Beispiel in Zentralafrika?« unterbrach ich sie.
Nelly blieb eine Weile stumm, dann antwortete sie, leiser: »Ja. Zum Beispiel in Zentralafrika .«
»Was wußtest du über den Auftrag, den er mir anvertrauen wollte?«
»Nichts. Jedenfalls so gut wie nichts. Letzten Mai schrieb uns Max, er sei auf der Suche nach einem Studenten für eine kurzfristige Arbeit im Ausland. Natürlich haben wir gleich an Sie gedacht.«
»Hast du gewußt, daß es dabei um Störche geht?«
»Ich glaube mich daran zu erinnern.«
»Hast du gewußt, daß diese Arbeit gefährlich ist?«
»Gefährlich? Mein Gott, nein .«
Ich wechselte den Kurs: »Was weißt du über Max Böhm, über seine Familie, seine Vergangenheit?«
»Nichts. Max war ein recht einsamer Mann.«
»Hat er je von seiner Frau gesprochen?«
In der Leitung krachte es, und ich konnte Nellys Antwort kaum verstehen. »Kaum«, hörte ich dumpf.
»Und von seinem Sohn?«
»Seinem Sohn? Ich wußte überhaupt nicht, daß er einen Sohn hat! Ich verstehe ihre Fragen nicht, Louis ...«
Wieder krachte es, diesmal so laut wie Gewehrsalven. Ich brüllte: »Letzte Frage, Nelly: Hast du gewußt, daß Max ein transplantiertes Herz hatte?«
»Nein!« Ich hörte ein Beben in Nellys Stimme. »Ich wußte lediglich, daß sein Herz schwach war. Ist er nicht an einem Infarkt gestorben? Louis, Ihre Reise ist sinnlos geworden! Es ist doch alles vorbei .«
»Im Gegenteil, Nelly, es fängt alles erst an. Ich melde mich später wieder.«
»Louis, mein kleiner Louis ... wann kommen Sie zurück?«
Wieder wurde die Leitung durch Störungen unterbrochen.
»Ich weiß nicht, Nelly. Grüße an Georges. Paß auf dich auf.«
Ich legte auf. Ich war verstört, wie jedesmal, wenn ich mit meiner Adoptivmutter sprach. Nelly wußte nichts. Die Braeslers waren
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