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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Ihr türkisfarbener Pullover war an den Ellenbogen durchlöchert. Die dritte Frau blieb sitzen; sie hielt ein Kleinkind im Arm. Sie war höchstens fünfzehn oder sechzehn Jahre alt und sah in meine Richtung, mit glühenden Augen unter einer schweren, schwarzglänzenden Haarmähne.
    Ich ging auf sie zu. Die sonnenblumengelbe Frau schrie jetzt, während sie nacheinander in die Tiefe des Waldes und auf die junge Mutter im Gras deutete. Ich war nur noch wenige Schritte von der Gruppe entfernt. Die Romni brach mitten im Satz ab und starrte mich an. Marcel war bleich geworden. »Ich versteh’ das nicht, Louis ... ich versteh’ das nicht. Rajko ist tot. Seit diesem Frühjahr. Er ... er ist ermordet worden. Wir müssen Marin aufsuchen, den Chef, im Wald.«
    Ich nickte und spürte, wie mir das Herz bis zum Hals schlug. Die Frauen gingen uns voraus, wir folgten ihnen durch die Bäume.
    Im Wald war es kühler, die Luft frischer. Die Wipfel der Fichten schwankten leicht im Wind, Zweige knackten, im Unterholz raschelte es. Durch kleine Lichtungen fielen sanfte Sonnenstrahlen schräg durch die Bäume und Büsche, Millionen von Stäubchen tanzten darin und ließen das Licht samtig wie Pfirsichhaut aussehen. Wir folgten einer Art Pfad, der vor kurzem ins Dickicht geschlagen worden war. Die Romni schritten mit unbeirrbarer Sicherheit aus. Auf einmal ertönten Stimmen, hallend in dem hohen smaragdgrünen Gewölbe. Männerstimmen, die einander wie aus großer Entfernung zuriefen. Die Sonnenblumenfrau drehte sich um und sagte etwas zu Marcel, der stumm nickte, während er weiterging. Der erste, dem wir begegneten, war ein junger Roma in einem Gewand aus blauem Stoff - eigentlich Fetzen von Stoff, mit grobem Zwirn aneinandergeheftet. Der Mann lag im Kampf mit einem dichten Dornengestrüpp, um darin einen winzigen Zweig mit einer beinahe farblosen Blüte zu pflücken. Er sprach mit Marcel, dann sah er mich an. »Kosta«, sagte er. Sein dunkelhäutiges Gesicht war jung und wohlgeformt, aber schon beim geringsten Lächeln bekam sein Ausdruck die zweideutige Schönheit eines Messers. Kosta folgte uns. Bald darauf kamen wir zu einer Lichtung, und hier fanden wir die Männer. Manche hatten sich den Hut übers Gesicht gestülpt und schliefen oder taten zumindest so, andere spielten Karten; einer hockte reglos auf einem Baumstamm. Lederne Gesichter, silbernes Aufblitzen an Gürteln oder Hüten, verhaltene Kraft, die bereit ist, beim geringsten Anlaß hervorzubrechen. An den Bäumen lehnten Säcke voll frisch gepflückter Blätter und Blüten.
    Marcel wandte sich an den Mann auf dem Baumstamm; die beiden schienen alte Bekannte zu sein. Nach langen einleitenden Worten stellte Minaus mich vor und sagte dann auf französisch: »Das ist Marin, der Vater von Mariana, der Frau mit dem Baby. Sie war Rajkos Frau.« Das junge Mädchen, von dem die Rede war, hielt sich im Hintergrund zwischen Gesträuch. Marin richtete den Blick auf mich. Seine Haut sah aus wie von Nadeln durchlöchert - als hätte man ihm eine nagelgespickte Maske aufgesetzt. Seine Augen waren schmale Schlitze, seine Haare weich und gewellt. Ein dünner Schnurrbart hing ihm über die Mundwinkel. Er trug eine zerrissene Jacke, unter der ein schmutziges T-Shirt zu erkennen war.
    Ich begrüßte ihn, dann verbeugte ich mich vor den anderen Männern. Manche warfen mir einen desinteressierten Blick zu. Marin sprach mich an, Marcel übersetzte: »Er will wissen, was du willst.«
    »Erklär ihm, daß ich nach den Störchen forsche. Daß ich versuche herauszufinden, wieso sie im letzten Jahr ausgeblieben sind. Sag ihm, daß ich mit Rajkos Hilfe gerechnet hätte. Die Umstände seines Todes gehen mich nichts an. Aber das Verschwinden der Vögel wirft weitere Fragen auf. Vielleicht hat Rajko Leute aus dem Westen gekannt, die mit den Störchen zu tun hatten. Ich glaube, daß er mit einem gewissen Max Böhm in Verbindung stand.«
    Je länger ich sprach, desto ungläubiger wurde Marcels Miene. Er starrte mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost.
    Dennoch übersetzte er, und Marin senkte leicht den Kopf, ohne mich aus den Augen zu lassen. Dann trat Stille ein. Marin musterte mich eine weitere Minute lang stumm. Dann sprach er. Lang. Gesetzt. In dem charakteristischen Tonfall einer erschöpften Seele, aufgerieben von der Grausamkeit seiner Mitmenschen.
    »Rajko war einer, der die Scheiße aufgerührt hat«, sagte Marin. »Für mich war er wie ein Sohn. Er hat nicht gearbeitet, aber das war nicht

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