Der Flug der Stoerche
Wagner forderte mich ungeduldig auf, ihn anzurufen. Der dritte Anruf war eine Überraschung: es war Nelly Braesler. Sie machte sich offenbar Sorgen, was aus mir geworden sei: »Mein lieber Louis, hier ist Nelly. Ihr Anruf hat mich sehr beunruhigt. Was treiben Sie denn? Rufen Sie mich zurück.«
Ich wählte die Nummer von Hervé Dumaz im Kommissariat von Montreux. Nach etlichen Versuchen kam ich durch und wurde mit dem Inspektor verbunden.
»Dumaz? Hier ist Antioche.«
»Endlich. Wo sind Sie denn? In Istanbul?«
»Nein, dafür war keine Zeit. Ich bin in Israel. Kann ich mit Ihnen reden?«
»Sicher.«
»Ich meine: hört auch niemand zu?«
Dumaz stieß sein übliches leises Lachen aus: »Was ist denn los?«
»Man hat versucht, mich umzubringen.«
Ich spürte förmlich den Schock, den meine Worte ihm versetzten.
»Wie?« fragte er nach einer Pause.
»Zwei Männer im Bahnhof von Sofia. Vor vier Tagen. Sie waren mit Sturmgewehren und Infrarotbrillen bewaffnet.«
»Wie sind Sie ihnen entkommen?«
»Durch ein Wunder. Aber drei Unschuldige sind dabei umgekommen.«
Dumaz schwieg. Ich fügte hinzu: »Einen der Mörder habe ich umgebracht, Hervé. Ich bin mit dem Auto nach Izmir gefahren und dann mit der Fähre nach Israel.«
»Was haben Sie denn herausgefunden?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur eins: daß die Störche eine zentrale Rolle spielen. Zuerst Rajko Nikolitsch - der Vogelkundler, der grausam abgeschlachtet wurde. Dann versucht man mich abzuschaffen, obwohl ich nur hinter den Störchen her bin. Und jetzt ein drittes Opfer. Wie ich erfahren habe, wurde vor vier Monaten ein israelischer Ornithologe ermordet, und ich bin sicher, daß der Mord zur selben Serie gehört. Ido Gabbor hat irgend etwas herausgefunden, genau wie Rajko.«
»Wer waren die beiden Killer in Sofia?«
»Vielleicht die zwei Bulgaren, die im April Joro Grybinski ausgefragt haben.«
»Was haben Sie jetzt vor?«
»Weitermachen.«
»Weitermachen!« rief Dumaz bestürzt aus. »Aber Sie müssen die israelische Polizei verständigen, sich mit Interpol in Verbindung setzen!«
»Kommt nicht in Frage. Der Mord an Ido ist hier ein abgeschlossener Fall. Rajkos Tod hat man in Sofia nicht mal zur Kenntnis genommen. Der Mord an Marcel Minaus wird mehr Aufsehen erregen, weil er Franzose war. Aber das alles ist Teil des allgemeinen Chaos. Keinerlei Beweis und lauter unzusammenhängende Fakten - es ist zu früh, um die internationalen Behörden zu verständigen. Meine einzige Chance besteht darin, daß ich versuche, allein weiterzukommen.«
Der Inspektor seufzte. »Sind Sie bewaffnet?« fragte er.
»Nein. Aber hier in Israel ist es nicht schwer, sich entsprechend auszurüsten.«
Dumaz schwieg, aber ich hörte, daß sein Atem schneller ging.
»Und Sie, was wissen Sie Neues?«
»Nichts Handfestes. Ich grabe noch immer in Böhms Vergangenheit. Im Augenblick sehe ich nur eine Verbindung: die Diamantenminen. Zuerst in Südafrika, dann in der Zentralafrikanischen Republik. Ich bin auf der Suche. Mit Ergebnissen kann ich nicht aufwarten.«
»Was haben Sie über Monde Unique herausgefunden?«
»Nichts. Eine völlig unbescholtene Organisation. Ihre Verwaltung ist transparent, ihre Unternehmungen effizient und unumstritten.«
»Woher stammt sie eigentlich?«
»Monde Unique wurde Ende der siebziger Jahre gegründet, und zwar von einem in Kalkutta ansässigen französischen Arzt namens Pierre Doisneau. Er hat sich um die sozial Schwachen gekümmert, Kinder aus den Elendsvierteln, Leprakranke ... Doisneau hat eine Organisation aufgezogen. Er hat medizinische Versorgungsstationen eingerichtet - auf der Straße, auf den Bürgersteigen -, die zunehmend wichtig geworden sind. Doisneau wurde immer bekannter und sein Ruhm international. Ärzte aus dem Westen kamen ihm zu Hilfe, von überall erhielt er Spenden - Tausende von Menschen konnten auf diese Weise betreut werden.«
»Und dann?«
»Dann gründete Pierre Doisneau die Organisation Monde Unique und später den sogenannten Club der 1001, bestehend aus ungefähr tausend Mitgliedern - Firmen, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und so weiter -, von denen jeder zehntausend Dollar eingezahlt hat. Die gesamte Summe, über zehn Millionen Dollar, wurde angelegt und wirft recht ansehnliche Zinsen ab.«
»Zu welchem Zweck?«
»Die Zinsen sind hoch genug, um die gesamte Verwaltung von Monde Unique zu finanzieren. Damit kann die Organisation ihren Sponsoren beweisen, daß ihr Geld direkt den Armen zugute
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