Der Fluss
so lange durchhalten?
Konnte Brian etwas anderes tun als warten? Hatte er eine andere Wahl?
Wenn er blieb und Derek nicht wieder zu Bewusstsein kam – wie lange würde er … durchhalten? Und wie lange konnte er ohne Nahrung und Wasser am Leben bleiben?
Davon war nie die Rede in Filmen oder im Fernsehen. Niemals wurde gesagt, was mit Menschen passierte, die im Koma lagen. Sie wurden wahrscheinlich mit dem Schlauch ernährt.
Aber das war hier unmöglich.
Also musste Brian versuchen, Derek irgendwie Wasser und Nahrung einzuflößen. Aber wenn er dies tat, konnte der Mann ersticken und sterben.
Auch dies war also unmöglich.
»Na, gut«, sagte er laut, halb zu Derek und doch nicht zu Derek. »Was kann ich tun?«
Fast die ganze Nacht hatte er neben Derek gekniet, und als er jetzt aufzustehen versuchte, knickten ihm die Knie ein. Er machte Rumpfbeugen und streckte seine Beinmuskeln und während er den Oberkörper zur Seite bog, roch er es.
O ja, das hatte ich ganz vergessen! Die Verdauung … Dereks Körperfunktionen gingen ja weiter. Oder nicht?
Doch offensichtlich taten sie es. Also auch das noch! Er musste Derek betreuen – ihn richtig versorgen, wie ein kleines Kind. So etwas hatte er noch nie getan.
Er hatte noch nie für einen anderen Menschen ge sorgt. Es war gar nicht so lange her, dass er selbst noch ein Kind gewesen war. Und jetzt wusste er nicht, was man in einer solchen Situation zu tun hatte.
Seine Wut war verflogen. Er fühlte sich einsam und hilflos.
Er musste Derek säubern und ihn versorgen. Ja, er musste ein anderes menschliches Wesen versorgen. Be trachte es so, dachte er: Es geht nicht um Derek, sondern um ein anderes menschliches Wesen. Er musste dieses hilflose menschliche Wesen jetzt säubern. Wenn er in nerlich Abstand hielt, konnte er es vielleicht tun.
Wieso war es überhaupt so schwer?
Er löste Dereks Gürtel, zog ihm die Hose herunter – und der Geruch wurde stärker.
»O Gott.«
Er kämpfte den Ekel hinunter, beherrschte sich, rollte Dereks Körper herum und hielt den Atem an. Mit Gras büscheln, die er ausraufte, machte er ihn sauber. Dann zog er die Hose hinauf und rollte Derek wieder auf die Seite.
Wie machten es Eltern bei kleinen Kindern? Schreck lich, er hatte keine Ahnung. Mit zwei Stöcken trug er die Grasbüschel und alles hinaus zu dem Loch, das sie als La trine in die Erde gegraben hatten. Dann lief er zum See und wusch sich immer wieder die Hände, bis er sie sich an die Nase halten konnte, ohne etwas zu riechen. Als sie sauber waren, als er wieder frei atmen konnte, ohne dass der Ekel ihn würgte, lief er wieder hinauf zu Derek.
Nur eines konnte er noch tun: Er konnte es Derek ein bisschen bequemer machen. Brian schob den schweren Mann zur Seite und schüttelte die Fichtenzweige auf, da mit er ein weicheres Lager hatte.
Dann zog er Derek hoch auf das Bett und legte ihn auf den Rücken. Jetzt aber fing Derek an zu würgen und keu chend zu atmen, als ob er erstickte. Darum rollte er ihn wieder auf die Seite.
Nichts zu machen.
Nein, er konnte wirklich nichts tun.
Inzwischen war es ganz hell geworden und das Gras trocknete unter den warmen Strahlen der Sonne. Welch ein schöner Sommertag! dachte Brian, während sein Blick über den stillen See schweifte, in dem sich die Bäume des gegenüberliegenden Ufers spiegelten. Ja, welch ein schöner Tag, mit jubilierenden Vogelstimmen und springenden Fischen im Wasser. Alles war beinah vollkommen – bis auf die eine Tatsache. Diese eine, un ausweichliche Tatsache:
Derek lag im Koma.
13
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Irgendwo, überlegte Brian, irgendwo musste er einen medizinischen Bericht über Menschen im Koma gelesen haben. Auch wenn er sich nicht erinnern konnte, hatte er das Gefühl, dass da irgend etwas in seinem Hinterkopf war, in seinen unbewussten Gedanken. Und wenn es da war, musste er es doch hervorholen können.
Den ganzen Vormittag lang versuchte er, sich daran zu erinnern, was er unbewusst wusste. Aber es kam nichts.
Ein Koma war ähnlich wie Schlaf, dachte er, nur dass man nicht mehr daraus erwachte. Der Körper funk tionierte weiter – das Herz, die Atmung und die Verdau ung – , aber man konnte weder essen noch trinken.
Brian kam eben vom See herauf, in der Hand einen mit Wasser gefüllten Becher aus Birkenrinde, als es ihm einfiel: Vielleicht mussten sie eine Woche lang warten, sogar zehn Tage warten, bis das Flugzeug kam. Er wusste, dass Menschen so lange ohne Nahrung aushalten konn ten. Derek würde vielleicht
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