Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
Schublade aufzog, ein Brett entfernte, den Beutel hineinlegte und das Fach wieder verschloss.
»Im Safe wäre das Geld vielleicht sicherer«, meinte Yvette.
»Nein, mein Kind, das Geld bleibt nicht lange im Haus. Demnächst werden einige Familien von deiner Großzügigkeit profitieren. Ich werde mit Paul darüber reden.«
Er lächelte. Seine Selbstzufriedenheit reizte Yvette bis aufs Blut, aber sie hütete sich, die Proteste, die ihr durch den Kopf schossen, laut auszusprechen, damit keine weiteren Strafen folgten.
»Das ist im Augenblick alles«, sagte Frederic.
Draußen im Korridor schimpfte Yvette los. »Warte nur, bis ich George finde. Er hat den Gewinn aufgesammelt und Vater gegeben. Warum hat er das gemacht?«
»Ich weiß es nicht.« Jeannette wollte ihre Schwester gern trösten. »Wenn Papa das Geld nicht haben würde, hätte er sich vielleicht eine schlimmere Strafe einfallen lassen.«
»Schlimmer? Was denn noch? Der schöne Gewinn – und wir durften das Geld nicht einmal zählen! Das ist unfair, sage ich dir.«
»Müde?«
Erschrocken sah Charmaine, die auf der Wiese saß, auf und musste blinzeln, weil sie gegen die Sonne nur die Silhouette eines Mannes erkennen konnte. Er trat einen Schritt nach vorn, und sie lächelte halbherzig zu Paul empor.
»Nein, müde bin ich nicht«, antwortete sie, als er sich neben sie setzte und die Arme um seine Knie schlang. »Eher ein wenig unzufrieden.«
»Sie machen sich wegen des nächtlichen Ausflugs doch hoffentlich keine Vorwürfe, oder?«
»Nicht wirklich. Im Moment warte ich auf die Mädchen.« Sie sah zu, wie Pierre schaukelte.
»Es wird schon nicht so schlimm werden«, sagte Paul, um sie zu trösten. Dabei verspürte er ein unerklärliches Ziehen in der Brust. »Charmaine, sehen Sie mich an.«
Sie gehorchte und war über seinen gefühlvollen Blick überrascht.
»Ich habe Sie sehr vermisst«, sagte er schlicht. Dabei ergriff er ihre Hand und drückte sie mitfühlend, was ihr neue Zuversicht verlieh. »Wie war Ihre Woche?«
John verließ die Terrasse und ging ins Haus. Charmaine war anderweitig beschäftigt und schien das Interesse an ihm verloren zu haben. Seine Woche war zu Ende. Hatte er das nicht schon gestern Abend bemerkt? Vermutlich war es klüger, die Tür zu schließen. Er rieb seine Stirn und schluckte.
Warum wurde er immer zurückgewiesen? Warum ließ er es zu? Er hörte wieder die Worte, die sanfte Bitte, die ihn nicht losließen: Nimm dich ihrer an, John, und sorge für sie … lebe wieder und liebe …
Im selben Moment fasste er einen Entschluss. Rasch durchquerte er die Halle und lief die Treppe hinauf. Dies war seine letzte Chance. Er hatte nichts zu verlieren. Also überwand er seinen Stolz und betrat das Allerheiligste seines Vaters.
Frederic sah vom Schreibtisch auf.
John merkte ihm die Überraschung an und kam ohne Umschweife zum Punkt. »Ich kehre morgen nach Virginia zurück und bitte dich um die Erlaubnis, Pierre und die Zwillinge mitzunehmen.«
Die klare Frage verblüffte Frederic zunächst. Aber Johns Auftritt beeindruckte ihn – besonders nach der hässlichen Szene am gestrigen Abend. War das nicht genau das, was er wollte? Eine ehrenhafte Übereinkunft?
»Für wie lange?«
»Für immer.«
»Und wer soll für sie sorgen, wenn du in Geschäften unterwegs bist?«
Denkt mein Vater tatsächlich über meinen Wunsch nach? Eigentlich hatte er ein klares »Nein« erwartet. »Miss Ryan, falls sie einverstanden ist. Sie hat in Richmond Freunde, so dass sie nicht allein wäre.«
Frederic holte tief Luft und erhob sich. Er ging zu den französischen Türen hinüber und erwog dabei die Vorteile und Nachteile einer solchen Lösung. Es war eine Möglichkeit, die Dinge mit John in Ordnung zu bringen, aber würde er sich dadurch den anderen Sohn entfremden?
»Was würde eine solche Entscheidung für Yvette und Jeannette bedeuten?«
»Was meinst du?«, entgegnete John aufgebracht. »Was würden sie vermissen? Etwa den schemenhaften Vater, der sich in seinen Räumen verkriecht und sich nicht um sie kümmert oder in einem fort nörgelt und wie ein Verrückter schimpft? Oder eine Stiefmutter, die sie verabscheut? Was meinst du, wo es ihnen besser gefällt?«
Wenn Frederic an seine verschüchterten Töchter dachte, konnte er den Einwand nicht einfach abtun. Diesen Fehler musste er ändern … um Colettes und auch um seiner selbst willen. Er drehte sich zu John um. »Warum bleibst du nicht einfach hier, John? Wäre es denn nicht
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