Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
noch Miss Ryan dafür verantwortlich machst. Sie konnte nichts wissen. Dasselbe gilt für George, wenn du ihn beschuldigst, mit Yvette unter einer Decke zu stecken. Er hat sicher sein Bestes gegeben, um die Mädchen zu beschützen.«
Pauls Argumente wirkten, aber die Situation entspannte sich erst, als Jeannette einen Schritt auf Frederic zuging. »Paul hat recht, Vater«, flüsterte sie. »Yvette und ich haben gewartet, bis Mademoiselle Charmaine geschlafen hat. Dann haben wir die Sachen angezogen, die Yvette im Stall gefunden hat, und sind davongeschlichen. Wir wussten, dass wir etwas Verbotenes tun, aber wir haben nicht gedacht, dass man uns erwischt. In dieser Verkleidung erst recht nicht. Wir wollten doch nur sehen, was nachts im Dulcie’s passiert. Als George uns entdeckt hat, war er furchtbar wütend, aber Yvette hatte gute Karten und hat ihm versprochen, dass wir nach diesem Spiel nach Hause gehen.«
Charmaine hielt die Luft an und war erleichtert, als Frederic sich zu beruhigen schien und sogar so etwas wie Verständnis erkennen ließ. »Und das hat deine Schwester mir nicht sagen können? Es war ihre Idee, nicht wahr?«
»Ja.«
»Warum kommt sie dann nicht? Ist sie so feige, dass sie die Verantwortung nicht übernehmen und nicht für sich selbst sprechen kann?«
»Sie hatte Angst, dass du sie umbringst«, antwortete Jeannette geradeheraus. »Ich glaube das nicht, und deshalb fürchte ich mich auch nicht, es dir zu sagen.«
Frederic sah zu Yvette hinauf und begriff, wie sehr sein Wutanfall die kleine Rebellin eingeschüchtert hatte. Zumal ihm das nicht zum ersten Mal passiert war, bedauerte er es umso mehr.
»Wir beide werden uns morgen unterhalten«, sagte er. »Du musst zwar nicht um dein Leben fürchten, aber eine Strafe hast du verdient.«
Dann wandte er sich an Charmaine. »Bringen Sie die Kinder in ihr Zimmer und sorgen Sie dafür, dass sie auch dort bleiben, bis ich sie rufen lasse.«
»Gewiss, Sir.« Charmaine wartete auf Jeannette, bevor sie zusammen die letzten Stufen hinaufgingen.
»Es tut mir leid, Papa«, rief Jeannette. »Es tut mir wirklich leid.«
Aber Frederic schien sie nicht mehr zu hören, als er müde ins Arbeitszimmer hinkte.
»Oh, Mademoiselle, was habe ich nur getan?« Sie saßen auf Charmaines Bett, und Yvette hatte den Kopf im Schoß ihrer Gouvernante vergraben. »Ich war so böse, und jetzt mag mich keiner mehr.«
»Nur ruhig, mein Kind.« Tröstend strich sie dem Mädchen über das Haar. So zerknirscht hatte sie Yvette noch nie erlebt und war sichtlich beeindruckt. »Es ist alles nicht so schlimm, wie du glaubst.«
»Doch, das ist es! Besonders für Johnny. Ich wollte ihm keine Schwierigkeiten machen, aber genau das habe ich getan. Jeannette hat mich gewarnt, aber ich wollte nicht hören. Sie hat sich auch um Sie gesorgt, aber ich hätte nie gedacht, dass Vater so wütend wird! Und erst Paul und George! George wird mir das nie verzeihen! Er hat Vaters Zorn wirklich nicht verdient. Er wollte mich doch nur beschützen, und jetzt verliert er womöglich seine Arbeit. Und Jeannette hasst mich, weil ich sie in die Sache hineingezogen habe.«
»Ich hasse dich nicht, Yvette«, versicherte Jeannette.
»Das solltest du aber.« Langsam hob Yvette den Kopf. »Morgen wirst du bestraft, und das nur wegen mir!«
Wieder brach sie in Tränen aus. »Ich weiß nicht, warum ich immer so schlimme Dinge tue. Ich weiß nicht einmal, warum sie mir überhaupt einfallen! Warum wollte ich unbedingt heute ins Dulcie’s gehen? Warum ist es mir nicht gestern eingefallen, als Vater noch auf Espoir war?«
»Weil du wusstest, dass am Freitag am meisten los ist«, sagte Jeannette. »Du wolltest doch unbedingt Poker spielen, erinnerst du dich?«
Charmaine war bestürzt. Demnach bereute Yvette ihr Benehmen nicht im Geringsten, sondern war nur enttäuscht, dass man sie erwischt hatte.
»Dabei habe ich gewonnen!«, jammerte sie. »Ich habe meinen Einsatz fast verdreifacht.«
»Aber das ist doch gut«, sagte Jeannette.
»Gut?« Yvette war entsetzt. »Wie kannst du das sagen! Ich bin davongerannt und habe alles liegen lassen! Fast achtzig Dollar! Wenn du den letzten Einsatz dazuzählst, waren es sogar hundert! Und die stinkenden Matrosen haben alles eingesackt, als Vater die Bar verlassen hat. Unsere zwanzig Dollar sind auch weg!«
George fand seinen Freund im Stall, wo er Phantoms Flanken striegelte und bürstete, bis sie glänzten. Als ob die Arbeit den Eiter aus der Wunde entfernen könnte,
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