Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
Und zwar in Virginia und in New York. Die Arbeit lässt sich nicht länger aufschieben.« Dann kam ihm ein Gedanke, und die Erregung beflügelte seine Stimme und verlieh ihr neue Kraft. »Wie wäre es denn, wenn du mich zusammen mit Jeannette und Pierre in Richmond besuchst? Vielleicht im nächsten Frühling, wenn das Wetter wieder schön ist? Bis dahin ist meine Arbeit erledigt, und ich habe viel Zeit für euch drei. Wie hört sich das an?«
»Wie eine Lüge!«, fauchte Yvette. »Wie eine verdammte Lüge!«
»Yvette!«, schimpfte Charmaine, obgleich ihr Herz heftig klopfte .
»Aber es stimmt!« Yvette riss vor Kummer die Augen auf und sah zuerst ihren Bruder und dann Charmaine an. »Er lügt! Er lügt wie damals! Als wir fünf Jahre alt waren, ist er fortgefahren und hat versprochen, dass wir ihn besuchen dürfen, dass er uns schreibt und dass er uns die Fahrkarten für die Reise im Frühjahr schickt. Aber sie sind nicht angekommen und auch keine Briefe. Ich durfte nicht einmal über ihn reden! Als ich ihm endlich schreiben durfte, habe ich ihn gebeten, uns einzuladen. Aber glauben Sie, er hat geantwortet? Nichts hat er getan! Er hat meine Briefe nicht beachtet, als ob sie ihm gleichgültig wären! In seinen Briefen war von allem anderen die Rede, nur nicht von unserem Besuch in Virginia.«
Sie sah John an, doch die Wut überdeckte ihren Kummer. »Ich höre mir deine Lügen nicht näher an! Vater hatte recht. Du bringst der Familie nur Kummer. Du interessierst dich nur für dich selbst! Geh nur zurück nach Richmond! Du wirst schon sehen, dass ich nicht weine!«
»Yvette! Es reicht!«, rief Charmaine.
John schluckte heftig. Der Kummer des Kindes schmerzte ihn mehr als sein eigener. »Lassen Sie nur, Charmaine, sie weiß nicht, was sie sagt. Ich weiß ja, dass sie das nicht so meint.«
»Ich meine es aber so!« Yvette riss sich los, als er den Arm um sie legen wollte. »Fass mich nicht an! Lass mich einfach nur in Ruhe!«
John ließ die Arme sinken, weil er nicht wusste, wie er sich noch besser erklären konnte, und verließ mit hängendem Kopf den Raum.
An diesem Abend wurde später gegessen, doch als endlich alle um den Tisch herumsaßen, wurde das Dinner in allgemeinem Schweigen eingenommen. Ob verzweifelt oder froh – vom Kind bis zum Erwachsenen waren alle mit Johns plötzlichem Entschluss beschäftigt und starrten wortlos auf ihre Teller.
Charmaine war es recht. Ihr war nicht nach fröhlicher Unterhaltung zumute oder gar danach, Glück vorzutäuschen, wie Yvette das tat. Um John zu strafen, täuschte das Mädchen einen guten Appetit vor, was John aber gar nicht zu bemerken schien. Yvette verstand nicht, wie sehr ihr Bruder litt und dass ihn die Situation zum Handeln zwang. Charmaine dagegen verstand inzwischen genug, um zu wissen, dass das Geheimnis dieser Familie größer und schrecklicher war, als sie ahnen konnte.
Ein vertrautes Klopfen, gefolgt von rhythmischem Schlurfen, kündigte den Herrn des Hauses zum Dinner an. Charmaine hielt den Atem an. Niemand sagte ein Wort, als Frederic stumm an John vorbeiging und auf das Ende der Tafel zusteuerte. Agatha überließ ihm hastig ihren Platz und setzte sich auf den Stuhl zu seiner Linken. Anna schob Agathas Teller zur Seite und legte ein neues Gedeck für Frederic auf. Je mehr Zeit verging, desto größer wurde die Spannung.
Irgendwann unterbrach Pierres sanftes Stimmchen die Stille. »Johnny?«
John hob den Kopf und sah kurz zu seinem Vater hinüber, bevor er sich dem Jungen zuwandte. »Ja, Pierre?« Er räusperte sich. »Was gibt es?«
»Ich habe überlegt.«
»Wirklich?«
»Hm.« Der Junge nickte. »Ich will mitfahren … mit dem Schiff.«
John erbleichte, aber seine Antwort klang kühl. »Ich fürchte, das geht nicht, Pierre. Dann müsstest du doch so viel zurücklassen, was dir kostbar ist.«
»Muss ich nicht. Ich packe einfach alles in einen Koffer.«
John wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. »Ein so großer Koffer würde gar nicht in die Kabine passen.«
»Du bist ganz schön dumm.« Pierre kicherte. Bestimmt wollte ihn sein Bruder nur ärgern. »Ich habe das Schiff doch gesehen. Weißt du noch? Es ist riesengroß.«
»Und was ist mit den Menschen, die du nicht mitnehmen kannst? Deine Schwestern, zum Beispiel? Oder Mainie? Die liebst du doch sehr, oder nicht? Wirst du sie denn nicht vermissen?«
»Sie können ja auch mitkommen. Jeannie will mit, das hat sie schon gesagt.« Er sah zu Jeannette hinüber, die hoffnungsvoll
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