Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
hatte sie behauptet, Frederic zu lieben, und sie hatte Charmaine erzählt, dass sie sich vom ersten Augenblick an zu ihm hingezogen fühlte. Warum also hatte sie ausgerechnet den Sohn dieses Mannes zum Liebhaber gewählt?
Frederic musste am Boden zerstört gewesen sein, als er erfahren hatte, dass seine Frau ihm untreu war, dass sein Sohn ihn betrogen hatte. Charmaine konnte sich vorstellen, dass bei einem Streit um die Frau, die sie beide liebten, die Wahrheit über Pierres Empfängnis herausgekommen war und den Schlaganfall ausgelöst hatte, der Frederic zum Krüppel gemacht hatte.
John … Warum hatte er überhaupt eine ehebrecherische Beziehung mit der Frau seines Vaters begonnen? Aus Rache für die Vernachlässigung, die er als Kind erfahren hatte? Nein, es musste mehr sein. John hatte Colette geliebt. Charmaine spürte, dass das so gewesen war. Und er liebte Pierre bis zur Verzweiflung – seine kostbare Erinnerung an diese Liebe.
Warum hatte Colette das alles zugelassen?
Durch ihre Liebe zu Vater und Sohn hatte sie Unglück über dieses Haus gebracht und die Familie zerstört. Dennoch konnte Charmaine sie nicht verurteilen. Welch eine Tragödie! Alle waren davon betroffen und würden für Generationen darunter leiden. Das war auch der Grund dafür, warum Colette noch immer durch diese Räume geisterte – ihre Seele hatte noch keinen Frieden gefunden!
Und Pierre? Würde er heranwachsen und Frederic für seinen Vater und John nur für seinen älteren Bruder halten? John hatte ihn mitnehmen wollen , begriff Charmaine. Doch in der Nacht am Piano hatte er von diesem Vorhaben Abstand genommen. Niemand verdient es, verletzt zu werden. Am wenigsten ein unschuldiges Kind … Er war bereit, sein eigenes Glück für Pierres Wohlergehen zu opfern. Aber würde der Junge ohne ihn glücklicher werden?
Angesichts solch ungeheuerlicher Gedanken erbebte Charmaine. Ob sie jemals die ganze unglaubliche Geschichte erfahren würde? Konnte die Familie die Vergangenheit jemals begraben? Nein. Ein solch entsetzliches Geschehen konnte weder vergessen noch vergeben werden, denn so etwas lebte in alle Ewigkeit weiter.
Charmaine ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie vergrub das Gesicht im Kissen und weinte, in der Hoffnung, dass die Tränen ihre bösen Vermutungen wegwuschen.
Sonntag, 8. Oktober 1837
Am nächsten Morgen war Pierre krank. Er war zwar fieberfrei, doch sein Gesicht war gerötet, und er klagte über Kopfschmerzen und Bauchgrimmen. Offensichtlich litt er an gebrochenem Herzen.
»Wenn Pierre nicht in die Messe geht«, verkündete Yvette, »dann gehe ich auch nicht!«
»Und wie du gehst, junge Lady«, sagte Charmaine. »Dein kleiner Bruder fühlt sich nicht wohl, aber dir fehlt gar nichts.«
»Aber wer kümmert sich um ihn, wenn wir fort sind?«
»Ich bin sicher, dass John das gern für eine Stunde übernimmt.«
Yvette zog eine Schnute, und wie in der vergangenen Nacht drehte sie sich störrisch zur Wand.
Charmaine lächelte in sich hinein. John würde sich darum reißen, Pierre zu beaufsichtigen. Das war seine letzte Gelegenheit, um mit dem Jungen allein zu sein.
John setzte sich neben Pierre auf den Bettrand und strich ihm das zerzauste Haar Strähne für Strähne aus dem Gesicht. Im Haus war es still, und das tiefe Atmen des Kindes war das einzige Lebenszeichen. Die Stille nagte an seinem Herzen. Als er den schneidenden Schmerz nicht länger beherrschen konnte, tropften die ersten Tränen auf seine Hand.
Zwei Monate. Er hatte zwei Monate geschenkt bekommen. Das musste für den Rest des Lebens genügen. Acht Wochen voller Lachen. Seltsam, dass er sich gar nicht mehr an die anfängliche Verzweiflung und den Kummer erinnern konnte, als er Charmantes zu spät erreicht hatte. Zwei Monate … Falls es einen Gott gab, so dankte er ihm.
Ein markerschütternder Schrei gellte durch die Luft. John schoss in die Höhe und lief hinaus auf die Veranda. Drüben jenseits der großen Wiese herrschte Chaos. Ein Pferdeknecht lag schmerzverkrümmt auf dem Boden, und sein Arm war seltsam abgewinkelt. Ein anderer rannte über die Koppel. »Er ist dort drüben!«, rief er über die Schulter zurück. Zwei andere Männer rannten aufs Haus zu.
Aufgeregt schnaubend galoppierte Phantom im Kreis und schüttelte seinen mächtigen Kopf. Plötzlich blieb er stehen, rieb seine Nüstern an seinem Bein, stieg vorn hoch und trat dann mit den Vorderhufen laut wiehernd in die Luft. Anschließend nahm er den wilden Galopp wieder auf.
Die
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