Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
verrückt.
»Du musst es aber glauben, weil es so ist.« Sie drückte den Jungen an sich. Als sie ins Kinderzimmer kamen, sahen Yvette und Jeannette ihnen mit großen Augen entgegen. »Du bleibst jetzt im Bett und schläfst, und wenn du lieb bist, dann darfst du John gleich am Morgen sehen, bevor wir zur Messe gehen.«
Pierre zog eine Schnute. »Wetten, dass ich das nicht darf? Wetten, dass er einfach fortgeht, wie Yvie gesagt hat?«
John sah Yvette an. »Nein, Pierre, Yvette irrt sich. Ich würde nie weggehen, ohne mich von dir zu verabschieden. Wir sehen uns morgen früh, wie Mademoiselle dir versprochen hat. Aber nur, wenn du jetzt brav schläfst.«
Der Junge strahlte. »Und dann nimmst du mich mit?«
»Dieses Mal nicht, und jetzt hör auf zu betteln.«
Pierre brach in Tränen aus. »Aber ich will mit! Bitte, lass mich mitfahren. Ich bin auch sehr, sehr, sehr lieb! Ich verspreche es. Bitte, Johnny! Bitte, nimm mich mit!«
»Nein!«, schimpfte John. »Und jetzt hör endlich auf zu weinen, oder ich komme nie mehr zu Besuch!«
Die Drohung hatte verheerende Folgen. Verbissen kämpfte der Kleine gegen die Tränen, wurde aber immer wieder von heftigem Schluchzen geschüttelt. Charmaine nahm ihn in den Arm, aber der Junge war untröstlich. Sie warf John einen tadelnden Blick zu.
Das war der letzte Schlag. Entrüstet wandte sich John seinen Schwestern zu. Yvette drehte sich zur Wand, doch Jeannettes gerunzelte Stirn bot ihm ein willkommenes Ziel und schürte seinen Ärger.
»Warum habt ihr ihn denn nicht aufgehalten? Oder Charmaine gerufen, als ihr gesehen habt, was er vorhat?«
»Pierre kann tun, was er will.« Jeannettes scharfer Ton war ein deutliches Zeichen, dass ihr Schmerz nicht weniger groß war.
»Wie meinst du das?«
»Das machst du doch auch, oder nicht? Du rennst davon, weil das leichter ist, als dich mit Vater zu verstehen. Wenn du erst wieder in Virginia bist, vergisst du uns alle. So wie beim letzten Mal. Yvette hat recht: Du liebst keinen aus dieser Familie.«
»Das ist nicht wahr, Jeannette!«, stieß John hervor. »Ich kann es nicht aushalten, wenn du so redest.«
»Warum gehst du dann weg?« Sie stöhnte, sprang vom Bett und umschlang ihn so fest, dass er wehrlos war. »Bitte, geh nicht weg! Sag, dass du hierbleibst! Oder nimm uns mit! Wir tun alles … alles, wenn du uns nur …«
»Das kann ich nicht«, murmelte er. Dann machte er sich los und lief aus dem Zimmer.
Charmaine lag im Bett und starrte zur Decke empor, ohne etwas zu sehen – außer ihren Erinnerungen an John. Das hatte bereits am ersten Abend nach seiner Rückkehr angefangen.
John … Seit wann bedeutete er ihr so viel? Wann hatte sie beim Gedanken an ihn nicht mehr die Stirn gerunzelt, sondern gelächelt? Er ist ein Rätsel – fürwahr. Entweder hasst man ihn oder man liebt ihn. Meistens in dieser Reihenfolge … Wann hatte der Herr ihr den wahren Menschen gezeigt?
John … der zukünftige Erbe des riesigen Vermögens. Der Gedanke an solch ungeheueren Reichtum brachte einige Frauen um den Verstand, andere lagen ihm seufzend zu Füßen. Wie traurig für sie, denn ihnen entging der wahre Schatz, der darunter verborgen war. John könnte ein Bettler sein, und dennoch würde sie sich als reich bezeichnen, weil sie ihn kennengelernt hatte.
John … der unweit von hier am Ende des Korridors schlief … oder keinen Schlaf fand.
Betrübt überlegte sie, ob sie ihn überhaupt noch einmal zu Gesicht bekäme. Wie leer ihr die Zukunft erschien. Keine Picknicks, keine Ausflüge in die Stadt, keine Abenteuer, die das Leben lebenswert machten, und keine Wortgefechte mehr, die die Langeweile vertrieben. Jeder Tag, jede Begegnung mit John, war anders und unerwartet verlaufen und hatte sie reich beschenkt. Wie sollte sie das Leben ohne ihn nur aushalten?
Seine Melancholie setzte ihrer Seele zu und ebenso seine Entscheidung, die ihn selbst tiefer traf, als seine Schwestern ahnten. Charmaine dagegen hatte es begriffen. Die Teile des Rätsels ließen nur einen schrecklichen, aber logischen Schluss zu: Colette und John waren ein Liebespaar gewesen und hatten zusammen ein Kind gezeugt. Pierre war Frederics Enkel! Es konnte eigentlich nicht wahr sein, und doch musste es so sein!
Wie hatte das geschehen können?
Colette … war mit einem Mann verheiratet, der alt genug war, um ihr Vater zu sein. War das Grund genug, um John zu erhören? Unmöglich! Charmaine war sicher, dass für Colette das Treuegelöbnis viel bedeutete. Außerdem
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