Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
lief.
Drei Tage lang war er mit großen Schritten durch den Raum gerannt und hatte nur innegehalten, wenn an der Tür geklopft wurde. Das Zimmer war eine schwer bewachte Festung, und es hatten nur ausgesuchte Personen Zutritt. Paul und George und Fatima mit ihrem Tablett. Die Übrigen wagten gar nicht zu fragen. Vermutlich hielten sie ihn für verrückt. Nach der äußeren Erscheinung war er das auch. Ein aschfahles Gesicht, dazu hohle Wangen, ein spitzes Kinn, ein drei Tage alter Bart und teilnahmslose, eingesunkene Augen. Selbst sein Haar glänzte nicht mehr und klebte an seiner feuchten Stirn. Er sah aus wie ein Besessener.
Die Zeit verrann. Irgendwann kehrte Rose zurück und brachte Paul mit. Schweigend traten sie ans Fußende des Betts. Paul hielt sich an einem der Pfosten fest. Mit ernstem Blick nickte er Rose zu, woraufhin sie leise zu Johns Sessel ging.
Er schien ihre Gegenwart zu spüren und schlug die Augen auf. Sie sah auf ihn hinunter, sah, wie matt und kraftlos er war. »Ich habe Paul gebeten, Robert Blackford zu rufen. Wenn Sie einverstanden sind, reitet er sofort los.«
Johns erloschener Blick belebte sich. »Nein«, stieß er drohend hervor.
»Aber, John …«
»Nein!«, bellte er. »Den will ich hier nicht haben!«
»Aber, John, ich bin doch kein Arzt. Ich kenne mich mit solchen Krankheiten nicht aus …«
»Oh, doch«, widersprach er. »Als wir noch klein waren, haben Sie uns immer gepflegt. Ganz egal, wie krank wir waren … Sie wussten immer das richtige Mittel. Auch wenn Sie es nicht glauben, aber ich weiß, dass Sie Pierre helfen können.«
»Sie erwarten zu viel von mir. Ich habe getan, was in meinen Kräften steht.«
»Wenn Sie ihm nicht helfen können, dann kann das niemand.«
»Das können Sie doch nicht wissen, John. Wir haben einen Arzt auf der Insel, der …«
»Ich habe › nein ‹ gesagt, verdammt! Dieser inkompetente Kerl fasst Pierre nicht an! Mein Gott, dieser Mann hat die Mutter des Jungen getötet, und er hat meine Mutter getötet!«
»Sie irren sich, John«, flüsterte Rose bekümmert.
»Denken Sie, was Sie wollen«, schimpfte er. »Aber ich schwöre, dass ich Blackford den Hals umdrehe, sollte er diese Schwelle überschreiten!«
»Nun gut«, lenkte Rose ein. »Ich werde Sie nicht länger drängen. Dafür gehen Sie aber jetzt in die Küche und essen etwas. Fatima hat Brühe gekocht. Anschließend sollten Sie ein wenig schlafen, damit Sie bei Kräften bleiben.«
»Nein.«
»Charmaine und ich halten Wache. Falls eine Veränderung eintreten sollte, sagen wir Ihnen augenblicklich Bescheid.«
»Nein.«
»Die Antwort nehme ich nicht an, John. Sie müssen etwas essen und sich ausruhen.«
»Nein und noch einmal nein! Ich lasse mich nicht wegschicken, damit Sie diesem Blackford heimlich Zutritt verschaffen!«
Rose knirschte mit den Zähnen. »So etwas würde ich niemals tun. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
Johns Miene blieb hart.
Rose versuchte es noch einmal sanfter. »Sie bringen sich in Gefahr, John. Wenn Sie zusammenbrechen, habe ich zwei Patienten.«
»Es geht mir gut, Rose. Kümmern Sie sich um Pierre, und machen Sie sich keine Gedanken um mich.«
»Rose hat recht«, drängte jetzt auch Paul. »Ich bitte dich, höre auf sie. Du weißt, dass sie nur Pierres Bestes im Sinn hat, oder nicht? Ich werde an deiner Stelle hier wachen.«
»Du?«
»Ja, ich.« Paul ignorierte Johns erregten Ton. »Es würde mir helfen. Wenn ich vor der Kapelle nicht so lange mit Travis diskutiert hätte, wären wir vielleicht am See gewesen, bevor das Boot umkippte. Ich würde gern etwas tun …«
»Dich trifft keine Schuld«, widersprach John. »Ich kenne den Schuldigen.«
»John, bitte. Ich schwöre, diesmal werde ich dich nicht enttäuschen.«
Paul wartete. Ob sein Bruder die Bitte überhaupt gehört hatte?
John schwankte ein wenig, als er aufstand, und sah bittend zu Charmaine hinüber. »Versprechen Sie, dass Sie Pierre nicht allein lassen, dass Blackford keinen Zutritt bekommt?«
»Ich … ich verspreche es«, stammelte sie überrascht.
»Schwören Sie!«
»Ich schwöre es.«
John fuhr mit den Fingern durch Pierres Haar und ging mit unsicheren Schritten hinaus. Charmaine sah ihm nach und fühlte mit einem Mal eine große Leere. Selbst in diesem verzweifelten Zustand strahlte John noch Zuversicht aus, die den Feind in Schach hielt. Beunruhigt sah sie zu Paul hinüber.
»Keine Sorge, Charmaine, John wird Ihnen keine Vorwürfe machen.«
»Vorwürfe? Was meinen Sie
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