Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
hätten. Stille. Dann warf er den Kopf zurück und lachte mitleiderregend. »Und ich wollte Gott die Gnade abringen, die er gar nicht besitzt!«
»Das dürfen Sie nicht sagen, John!«
»Und warum nicht? Weil ich seinen Fluch herausfordere?«
Er trat zurück und starrte zu dem Kruzifix über dem Altar empor. »Wie lange soll ich mich noch quälen? Hat das denn nie ein Ende?«
»John! Hören Sie auf!«
»Er hat mir alles genommen! Alles, was ich jemals geliebt habe.«
»Nein, John. Gott trifft keine Schuld. Er hat keinen Grund, Sie zu verfolgen, und Sie brauchen ihn gerade jetzt … Sie brauchen den Trost, den er Ihnen bietet.«
»Aber ich will den verdammten Trost nicht!«, brüllte er. »Ich will meinen Sohn! Verstehen Sie … Ich will nur meinen Sohn!«
»Gnädiger Gott«, murmelte sie. Ich hatte recht .
Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück, was ihm nicht entging. »Arme Charmaine Ryan«, zischte er voller Zynismus. »Nur Übel und Dekadenz, wohin Sie auch blicken. Sie haben mich vom ersten Tag an richtig eingeschätzt! Ja, ich habe das Kind gezeugt, das Sie geliebt haben. Dabei war Pierre auch nur ein Bastard.« Seine Stimme brach, und gegen seinen Willen verließ ihn seine Wut. »Ich brauche keine Zuschauer. Kehren Sie lieber in Ihre selbstgerechte, ach so moralische Welt zurück! Ich komme allein zurecht. Das habe ich lange genug bewiesen.«
Seine Gemeinheiten beeindruckten sie nicht. So leicht ließ sie sich nicht vertreiben.
Er hasste sie, weil sie in diesem makabren Glauben Zuflucht fand und ihn anstarrte. Er würde noch früh genug einen Narren aus sich machen. Pierre stand ihm mit solcher Klarheit vor Augen, als ob er seine Hand in der seinen, als ob er seine Lippen auf seiner Wange spürte … eine flüchtige, schmerzliche Umarmung.
»Gütiger Gott, habe ich ihn geliebt«, stöhnte er. »Warum hast du ihn mir genommen? Warum?«
Mit zitternder Hand fuhr er sich durch die Locken und schluckte. Als ihm Tränen in die Augen stiegen, legte er seinen Kopf in den Nacken, doch sie suchten sich ihren Weg und sickerten in sein Haar. Die Schlacht war verloren, und mit lautem Stöhnen ergab sich die Festung.
»O Gott, Colette!« Er starrte noch immer nach oben, als ob er durch die Decke zum Himmel aufsehen und sie ihn hören könnte. »Warum hast du mich verlassen? Wofür? Was hast du gewonnen – außer Elend und Tod? Ich habe dich geliebt, aber du hast mich weggeschickt. Warum hast du diesem schrecklichen Ort nicht den Rücken gekehrt, als ich dich darum angefleht habe? Du würdest noch leben … unser Sohn wäre noch am Leben!Warum hieltest du es so für das Beste?«
»Hören Sie auf, John. Tun Sie sich das nicht an!«
Jemand flehte ihn an, zog an seinem Arm. Plötzlich lag dieser Jemand in seinen Armen, und er klammerte sich fest, als ginge es um sein Leben. Wenn er losließ, würde er stürzen. Seine Welt löste sich auf. Der schmale Grat, auf dem er stand, schwankte bedenklich, und darunter warteten die hungrigen Klauen des Wahnsinns.
Charmaine erwiderte seine Umarmung und streichelte seinen Rücken. Ihr eigener Schmerz hätte nicht schlimmer sein können. Er vergrub den Kopf an ihrer Schulter, und sie fühlte seine heißen Tränen auf ihrer Haut und hörte die Sätze, die er in seiner Verzweiflung unzusammenhängend, aber mit schrecklicher Klarheit hervorstieß.
»Colette … Halt mich fest! Bitte, halte mich!«
Ihre Arme umschlangen ihn noch fester. Dann presste sie ihr Gesicht gegen seine Brust und weinte bitterlich. Sie wusste nicht, um wen sie weinte: um das zarte Kind, um ihre melancholische Freundin Colette oder um John, der so voller Leben und Lachen, voller Tränen, Hass und Liebe war? Ihr Herz schmerzte. Aber sie weinte auch um sich selbst, um den schrecklichen Verlust, der erst ganz langsam in ihr Bewusstsein drang und mit dem sie für den Rest ihrer Tage leben musste.
»Ich habe ihn getötet! Guter Gott … ich habe ihn getötet!«
Charmaine löste sich von ihm. »Nein, John, Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen. Es war ein Unfall, ein entsetzlicher Unfall.«
»Ein Unfall? Nein, Charmaine, das war kein Unfall! Unfälle geschehen, wenn Menschen eine Situation nicht mehr beherrschen. Seit ich von Pierres Empfängnis wusste, war er meiner Verantwortung anvertraut. Ich hätte ihn nie verlas sen dürfen, doch genau das habe ich getan. Alles, was ich jemals getan habe, hat sich zu diesem Ende gefügt. Die Sünden des Vaters wurden dem Sohn angelastet. Er musste sterben,
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