Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
Profil. Er hatte gerade eben gebadet und war dabei, sich für diesen schrecklichen Tag anzukleiden … und schon ging ihm seine Frau auf die Nerven. »Auf Charmantes existiert kein gesellschaftliches Leben«, wiederholte er mechanisch. »Ich sollte mir Gedanken machen, ob wir die Mädchen vielleicht in ein Internat nach London geben sollen.«
In Gedanken war er weit weg, weil er kaum geschlafen hatte. Als Erstes muss ich meine Töchter besuchen. Dieses Mal sollen sie nicht allein trauern müssen …
»… und du, mein liebster Mann, wirst viel ruhiger sein, wenn du deine Töchter in guten Händen weißt.«
»Agatha, bitte! Ich will das jetzt nicht diskutieren …«
»Ich weiß«, unterbrach sie ihn. »Du hast im Augenblick Wichtigeres zu bedenken. Aber heute wird John dir zum letzten Mal wehtun.«
Mit gerunzelter Stirn sah Frederic seine Frau an. »Wovon redest du?«
»John ist es nicht wert, dein Sohn genannt zu werden«, erklärte sie. »Sicher siehst du das jetzt auch so.«
»Ich sehe überhaupt nichts.«
»Dann bist du blind«, sagte sie und machte sich auf einen Wutanfall gefasst. »Der Junge war ihm anvertraut, aber John hat ihn wegen seines Pferdes vernachlässigt! Er wusste genau, wie verzweifelt der Junge war. Aber hat es ihn gekümmert? Nein. Er hat sich sogar noch lustig gemacht.«
Angesichts dieser Unterstellung war Frederic sprachlos. »Bist du verrückt, Frau? John hat den Jungen geliebt … und er trauert über die schreckliche Tragödie.«
»Eine Tragödie, die man leicht hätte verhindern können! Mag sein, dass John nicht voraussehen konnte, dass der Junge zum See gehen würde, aber du kannst sicher sein, dass er darauf gehofft hat, dass der Kleine beim Aufwachen heulen und schreien und die Familie erneut in Aufregung versetzen würde. Er hat die Kinder mit Absicht ausgenutzt. Pierre ganz besonders.«
»Das ist infam. Ich allein bin für alles verantwortlich und niemand sonst.«
»Ach ja?«, fragte Agatha treuherzig. »Man hat dich getäuscht und dich dazu gebracht, alle Schuld auf dich zu nehmen. Mag sein, dass man dich zu einem Wutanfall gereizt hat, aber deswegen bist du doch nicht schuldig … naiv vielleicht, aber nicht schuldig. Ich dagegen habe mich zurückgelehnt und beobachtet, und was ich über die Jahre zu sehen bekam, war nur schwer zu verdauen. Das letzte Dinner ist dafür ein perfektes Beispiel. John hat uns allen den Abend verdorben, weil er von Beginn an feindlich gesinnt war. Er hat seine Mutter ins Gespräch gebracht und sowohl deine Liebe zu ihr als auch mich lächerlich gemacht.« Voller Abscheu hielt sie inne. »Wie konnte er sich vor der ganzen Familie und der Dienerschaft nur so gebärden?«
»Er hat jedes Recht, mich zu hassen«, entgegnete Frederic müde.
»Im Gegenteil«, widersprach Agatha. »Du bist viel zu nachsichtig. Wie lange willst du seine Missetaten noch mit deiner Liebe zu Elizabeth entschuldigen? Sie ist seit dreißig Jahren tot … und sie lebt nicht weiter, jedenfalls nicht in ihrem Sohn!«
Frederics Blicke verdunkelten sich, doch Agatha war nicht zu beeindrucken. »Du hast selbst gesagt, dass er Elizabeth nicht ähnlich ist. Aber was ist er denn dann … nur die Saat eines Banditen?«
»Er ist mein Sohn«, erwiderte Frederic kalt. »Mein Sohn. Alles, was er ist, hat er unmittelbar von mir. Von seinem Vater.«
»Aber …«
Er funkelte sie an. »Behaupte nie wieder, dass an Johns Vaterschaft Zweifel bestehen! Ich glaube das schon lange nicht mehr. John ist mein Fleisch und Blut!«
»Aber das ist unmöglich!«
»Das habe ich auch geglaubt, doch das ist vorbei.«
»Du kannst nicht sicher sein«, widersprach sie hitzig.
»Ich bin es aber. Du musst John nur ansehen. Du hast selbst gesagt, dass ich blind war. Nun, das war ich, und es hat mich eine Menge gekostet. Ich habe deinem Bruder geglaubt, als er bei Johns Geburt wegen der Größe des Babys besorgt war und mich überzeugen wollte, dass John einen Monat zu früh geboren sei. Ich glaubte ihm auch, als er das Kind für den Tod der Mutter verantwortlich machte. Gott möge mir verzeihen. Ich habe ihm auch geglaubt, als er das Datum der Empfängnis berechnet und – obgleich er wusste, dass Elizabeth und ich schon vor ihrer Entführung ein Liebespaar waren – daraus geschlossen hat, dass John unmöglich mein Sohn sein konnte, sondern die Frucht eines heimtückischen Verbrechens war. Aber ich glaube ihm nicht länger, Agatha. Ich habe den Unsinn endgültig satt.«
»Aber, Frederic, Robert
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