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Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)

Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)

Titel: Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DeVa Gantt
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abzuwägen. »Liebe Charmaine«, flüsterte er. »Ich weiß, Sie trauern auch, und ich sollte Ihnen nicht noch meinen Schmerz und meine Beichte aufladen. Bestimmt sind Sie angewidert, und doch sind Sie voller Mitgefühl. Warum verdammen Sie mich nicht so wie die anderen?«
    »Weil ich weiß, dass Sie Pierre geliebt haben. In meinen Augen sind Sie kein böser Mensch.«
    »Was dann?«
    »Sie sind einsam.«
    Er nickte. »Einsam und allein.«
    »Sie irren sich schon wieder. Sie haben noch Ihre Schwestern, außerdem Rose und George. Und Paul und obendrein noch mich. Sollten Sie jemals eine Freundin brauchen, so bin ich immer für Sie da.«
    »Fürchten Sie nicht, dass ich diese Freundschaft beschmutzen könnte?«
    Sie lachte ein wenig. »Wenn Ihnen das zu Beginn unserer Bekanntschaft nicht gelungen ist, glückt Ihnen das jetzt erst recht nicht mehr.«
    Ein Lächeln huschte kurz über sein Gesicht.
    »Wenn Sie lieber allein sein wollen, gehe ich.«
    »Nein, bleiben Sie bei mir.« Er ergriff ihre Hand.
    So saßen sie lange da und ließen sich von der Stille des heiligen Ortes und der Anwesenheit des anderen trösten.
    Charmaine seufzte tief. Je größer der Reichtum, desto tiefer der Schmerz … Leider behielt ihre Mutter immer wieder recht. Trotz ihres Vermögens hatte die Familie gelitten und würde das auch in Zukunft tun. Mit einem Mal war Marie ihrer Tochter sehr nahe.
    Als sie die Kapelle verließen, wurden sie bereits von Fatima erwartet. Sie trocknete ihre Tränen mit der Schürze und brachte sie in die Küche, wo sie ihnen ein wenig Suppe vorsetzte.
    Charmaine brach als Erste zusammen. Die Müdigkeit holte sie ein, und die Erinnerungen an den sommersprossigen Jungen gaben ihr den Rest. Die Augen fielen ihr zu.
    »Charmaine«, rief John und umschloss ihre Hand.
    Beim Klang seiner Stimme schrak sie auf.
    »Kommen Sie, Sie müssen ins Bett.«
    Sie fühlte, wie sich seine Arme um sie legten und sie durch das Speisezimmer zur Treppe führten. Auf der obersten Stufe wusste sie nicht mehr, wo sie sich befand. Dann sah sie die Tür, ihre Tür, die Tür zu Johns früherem Zimmer … und wusste wieder, was sie darin erwartete. Plötzlich kam sie zu sich.
    Die Tür öffnete sich, und Father Benito kam heraus. Er musterte John mit finsterem Blick. »Ich habe den Leichnam gesegnet.« Charmaine spürte, dass er mehr sagen wollte, doch dann ging der Priester wortlos an ihnen vorbei.
    »Ich möchte ihn noch ein letztes Mal sehen«, flüsterte John. »Danach bringe ich Sie in eines der Gästezimmer. Wollen Sie mich begleiten?«
    Charmaine nickte und ließ ihn in das Zimmer vorangehen, in dem sie viele Tage lang gefangen gewesen waren. Rose bereitete den kleinen Körper für die Beisetzung vor. Sie hob den Kopf und sah John voll Dankbarkeit an, als er ans Bett trat. Paul löste sich von der Wand, an der er gelehnt hatte, und seufzte erleichtert, weil John so ruhig blieb. Auch George war da. Er hatte die letzten Tage mit den Zwillingen verbracht. Plötzlich sorgte sich Charmaine. Ob sie schon Bescheid wussten? Wie sollte sie es ihnen sagen?
    Minutenlang sah John auf den kleinen Pierre hinunter. Charmaine stand dicht hinter ihm, wollte ihn unter keinen Umständen allein lassen. Denn als sie ihn das letzte Mal hatte gehen lassen, war das größte Unglück über sie hereingebrochen.
    Der Junge war nicht mehr verschwitzt und sein klei-nes Gesicht nicht mehr vom Schmerz gezeichnet. Der verzweifelte Kampf war ausgestanden, und Einsamkeit war an seine Stelle getreten. Pierre hatte seinen Frieden gefunden. Mit großer Ruhe betrachtete John das kleine Gesicht. War er bereit, sich mit dem Tod des Jungen abzufinden? In diesem Augenblick war das Charmaines größter Wunsch.
    Als John schließlich das Wort ergriff, richtete er sich weder an seinen Sohn noch an die Anwesenden im Raum, auch nicht an Gott, sondern allein an Colette. »Ich vertraue dir unseren Sohn an, meine Liebste. Nimm ihn und hüte ihn bis zu dem Tag, an dem wir wieder vereint sind.«
    Charmaine erschauerte. Eine Stille, die größer war als der Tod, legte sich über den Raum und verbreitete Hoffnung. Ihre Blicke glitten über die Anwesenden, aber außer ihr schien keiner diese lebendige Gegenwart zu spüren, die sie mit jeder Faser ihres Körpers empfand. Es dauerte nicht lange, dann war es vorüber, und außer ihrem klopfenden Herzen war nichts mehr zu spüren. Als sie Pierre ansah, lag ein Lächeln um seine Lippen, das sie zuvor nicht wahrgenommen hatte. Colette hatte ihren

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