Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
gerührt, doch Frederic hatte nur Augen für seinen Sohn. »Wie geht es ihm?«
»Jeden Tag besser, Sir. Ich hatte ihn zu einem Nickerchen ins Bett gelegt, doch als ich nach ihm sah, war er fort. Ich nehme an, dass er in Mrs. Duvoisins Salon gelaufen ist, weil dort früher seine …«
»Sie müssen sich nicht rechtfertigen, Charmaine. Ich bin mit der Art und Weise, wie Sie meine Kinder umsorgen, sehr zufrieden und mache mir nicht die geringsten Sorgen.«
Als der unangenehme Teil erledigt war, rief Frederic seinen Sohn zu sich und verlangte einen Kuss, den der Kleine ihm nur gar zu gern gab.
Am Abend kam John nach oben, um den Kindern eine gute Nacht zu wünschen. Von der Schwelle aus beobachtete er, wie Charmaine sich abmühte, um den zappelnden Pierre in seinen Schlafanzug zu stecken. Doch der Kleine wand und wehrte sich nach Kräften und kicherte, als er John entdeckte.
Charmaine schmunzelte. »Wie man sieht, hat er sich bereits blendend erholt.«
»Johnny«, rief Yvette, bevor er etwas erwidern konnte, »stimmt es, dass du Mr. Westphals Tochter nicht heiraten willst?«
»Ja, das stimmt.«
»Zum Glück! Ich will nämlich nicht, dass du überhaupt heiratest. Und sie schon gar nicht!«
Yvettes unverblümte Offenheit ließ John schmunzeln.
»Ist sie wirklich so reich, wie ihr Vater sagt?«
»Ihr verstorbener Mann war sehr vermögend, und eines Tages wird sie auch noch das Geld ihres Vaters erben«, antwortete John. »Warum fragst du?«
»Warum will sie dich denn heiraten, wenn sie schon reich ist?«
John lachte aus vollem Hals. »Weil ich so liebenswert bin, natürlich.«
Charmaine verdrehte die Augen – obwohl sich John genau in diesem Augenblick zu ihr umdrehte.
»Das glaube ich nicht!«, widersprach Yvette. »Das ist doch kein Grund.«
»Manche Menschen haben nie genug – ganz gleich, wie viel sie besitzen. Also heiraten sie immer noch mehr Geld dazu.«
»Aber du machst das nicht, Johnny, oder?«
»Wenn ich überhaupt heirate, meine Süße, dann nur eine Frau, der es egal ist, wie viel Geld ich besitze, und die glücklich ist, dass sie mit mir verheiratet ist. Genau das wünsche ich eines Tages auch dir.«
Charmaine war überrascht und senkte den Kopf. Er sollte nicht sehen, wie sehr ihr gefiel, was er den Mädchen sagte.
»Wie bei Cinderella?«, fragte Jeannette mit leuchtenden Augen.
John nickte. »Ja, genau wie bei Cinderella.«
»Aber die böse Stiefmutter«, meinte Yvette, »lässt dich nicht den Boden fegen, oder, Johnny?«
John lachte. »Auf gar keinen Fall. Ihren Besen fasse ich nicht an! Womit sollte sie denn sonst fliegen?«
Montag, 28. August 1837
Da Fatima noch auf dem Markt war und die Kinder Hunger verspürten, richtete Charmaine ihnen einen kleinen Imbiss her. Als Felicia und Anna in die Küche kamen, sah sie kurz auf, bevor sie sich wieder den Sandwiches widmete.
Charmaines Gleichmut reizte Felicia. »Wie ich schon gesagt habe«, legte sie los, »gefalle ich ihm ganz bestimmt. Warte nur ab. Ich muss nicht einmal so tun, als ob ich noch unschuldig wäre. Der mag doch keine altmodischen Mädchen. Was glauben Sie, Mademoiselle? Habe ich Chancen?«
Ohne aufzusehen, butterte Charmaine die Brotscheiben. »Chancen worauf?«
Felicias Lachen klang gekünstelt. »Da haben wir es! Sie spielt schon wieder die Naive! Mit Ihrem vornehmen Getue halten Sie sich wohl für was Besseres, oder? Seit Sie in den unteren Stock gezogen sind, geht das jetzt so. Denken Sie doch, was Sie wollen – aber Sie sind trotzdem nur eine Bedienstete. Genau wie Anna und ich. Sie sollten den Leuten nichts vormachen. Sie sind schließlich nur die Tochter eines Mörders und sogar noch schlechter als wir!«
Charmaine schnitt eine Grimasse. Sie war verletzt und zugleich sprachlos. Was hatte sie nur getan? Was hatte dieses gehässige Gerede nach so vielen Wochen wieder zum Leben erweckt?
»Ich wüsste gern, worauf Sie es eigentlich abgesehen haben, Mademoiselle«, fuhr das reizlose Geschöpf fort. »Sie haben Paul fast ein ganzes Jahr lang umgarnt – aber ohne Erfolg. Wollen Sie ihn jetzt eifersüchtig machen, indem Sie sich den größeren Fisch angeln? Was meinst du, Anna? Ist sie darauf aus?«
Annas Nicken befeuerte Felicias Phantasien.
Sie grinste und redete mit Anna, als ob Charmaine Luft für sie sei. »Mademoiselle Ryan wird sich ganz schön wundern, wenn sie glaubt, dass sie John auf dieselbe Weise umgarnen kann, wie sie das bisher bei seinem Bruder gemacht hat.«
»John ? « Charmaine
Weitere Kostenlose Bücher