Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
Reihe wütender Fragen gefasst. »Wo sind die Mädchen?«, fragte er stattdessen.
»Bei George im Stall. Sie bewundern das neue Fohlen.«
Charmaine war überrascht, als keine weiteren Fragen folgten und John nur zum Glockenzug ging, um einem der Hausmädchen zu läuten.
Charmaine legte Pierre ins Bett und setzte sich zu ihm. Um Trost zu finden, schlang der kleine Junge die Arme um sein Kissen, was ihr schlechtes Gewissen noch verstärkte. Sie hatte das Kind enttäuscht. Der Kummer brach ihr beinahe das Herz. »Es tut mir so sehr leid«, flüsterte sie.
Pierre schob seinen Daumen in den Mund und schloss die Augen vor der Welt.
In diesem Moment fühlte Charmaine eine Hand auf ihrer Schulter und sah zu ihrem Retter auf. »Danke«, stieß sie hervor. Nie hätte sie gedacht, dass sie das einmal zu John Duvoisin sagen würde.
Mit ernster Miene sah er sie an. »Und wofür?«
»Dass Sie Mrs. Duvoisin Einhalt geboten haben, dass …«
»Ich bin leider etwas spät gekommen.«
Charmaine sah auf den kleinen Körper hinunter und war sich ihrer Schuld sehr wohl bewusst. Niemals hätte sie den Jungen dieser heimtückischen Person übergeben dürfen. »Wie konnte sie ein unschuldiges Geschöpf nur so misshandeln?«
»Es ist unsagbar grausam«, sagte John. »Peitschenhiebe sind noch zu gut für sie.«
Als es klopfte, ließ er Anna eintreten. »Wir brauchen eine Schüssel mit kaltem Wasser und einige Lappen.«
Das Mädchen knickste und verschwand, und einige Minuten später war sie mit dem Gewünschten wieder da. John rollte die Ärmel hoch. Er tauchte einen Lappen ins Wasser, wrang ihn aus und legte ihn als kalte Kompresse auf den kleinen Popo.
»Das hilft gegen die Schwellung.«
Pierre schrak hoch und stöhnte. Charmaine kniete neben dem Bett nieder und streichelte seinen Rücken, während John die Umschläge auf der misshandelten Haut wechselte.
»Es tut mir sehr leid, Mainie.«
»Das weiß ich doch, Pierre. In Zukunft solltest du wirklich nicht mehr hingehen.«
»Das tue ich auch nicht mehr. Nie mehr.«
»Das ist gut«, murmelte sie und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.
Als Pierre den Kopf im Kissen vergrub, nahm sie John die Kompresse aus der Hand. Die Striemen waren bereits deutlich schwächer geworden. Trotzdem fürchtete sie, dass Pierre ein oder zwei Tage lang nicht würde sitzen können.
»Machen Sie sich keine allzu großen Sorgen, Miss Ryan«, sagte John, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte. »Bei Kindern heilt das sehr schnell, außerdem finden wir sicher ein weiches Kissen.«
»Das alles hätte einfach nicht passieren dürfen! Ich hätte ihn nicht aus den Augen lassen dürfen, und ich hätte niemals zusehen dürfen, wie diese Frau die Hand gegen ihn erhob – trotz ihrer Drohungen.«
»Sie sind zu hart gegen sich, Mademoiselle. Die Sache wäre viel schlimmer ausgegangen, wenn Sie nicht dagewesen wären. Sie haben Pierre vor Agatha gerettet, und er weiß das. Es macht keinen Sinn, wenn Sie sich selbst bestrafen.«
Sie staunte über seine einfühlsamen, tröstenden Worte. Und ebenso wunderte sie sich, dass er ihr keine Vorwürfe machte, weil Pierre ihr entwischt war.
»Besser?«, fragte er stattdessen.
Sie nickte ein wenig verwirrt.
»Gut. Dann gehe ich jetzt. Und vertreten Sie mich gut, ja?«
Als sie schon wieder nickte, lächelte er – warm und ohne jeden Spott. Dann war er fort, und sie saß ungläubig da und konnte kaum fassen, wie sehr er ihr geholfen hatte.
Sonntag, 27. August 1837
John und Pierre saßen zusammen im Speisezimmer am großen Tisch, während fast alle Mitglieder der Familie und die Dienerschaft zur Messe gegangen waren. Weil die Holzbänke so hart waren, hatte John vorgeschlagen, dass er sich zu Hause um den Kleinen kümmern wollte.
John beugte sich nach vorn und betrachtete den Dreijährigen ebenso eindringlich wie dieser ihn. Ein wirklich netter Junge, dachte er. »Was schlägst du vor? Was sollen wir jetzt eine Stunde lang machen?«
»Fischen.«
»Fischen? Woher weißt du denn, was das ist?«
»Von Georgie. Ihr habt doch immer mit Gummy im Hafen gefischt.«
John lachte und wunderte sich insgeheim über Pierres Gedächtnis. »Eines Tages gehen wir fischen«, sagte er, »aber dann mit einem Ruderboot.«
Pierre neigte den Kopf zur Seite. »Was ist ein Ruderboot?«
»Ein kleines Boot, in dem nur ein paar Leute Platz haben«, erklärte John. »Damit kann man auf einem See oder einem Fluss fischen. Vielleicht schenke ich dir eines zum Geburtstag. Würde
Weitere Kostenlose Bücher