Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
dir das gefallen?«
»Hm.« Pierre nickte begeistert.
»Also gut. Dort, wo ich wohne, gibt es einen breiten Fluss, den James. Würdest du gern dort mit mir angeln?«
Pierre überdachte, was sein Bruder gesagt hatte. »Wo du wohnst?«
»Ja, genau – in Virginia. Ich muss nämlich bald wieder nach Hause fahren.«
»Warum?«
»Weil ich dort arbeiten muss.«
»Warum?«
»Weil …« John wusste nicht weiter und musste lachen. »Das ist eben so. Würdest du gern mitkommen? Wir würden mit einem Schiff über den Ozean segeln und dann direkt in den James River und im Hafen der großen Stadt anlegen, wo mein Haus steht. Würde dir das gefallen?«
Nachdenklich sah Pierre seinen großen Bruder an. »Würde ich in deinem Haus wohnen?«
»Würdest du denn gern bei mir wohnen?«
»Nur, wenn Mainie mitkommt.«
»Nur, wenn Mainie mitkommt«, murmelte John leise. »Also gut, das müssen wir uns noch überlegen.« Zärtlich zauste er Pierres Haar.
Father Benito redete und redete, und Charmaine ertappte sich dabei, wie sie ins Träumen geriet. Agatha saß in der Reihe vor ihr, und Charmaine erinnerte sich wieder an Johns Auftritt im Salon. Hexe … das Wort hatte gewirkt. Bis heute Morgen hatte Mrs. Duvoisin ihren Salon nicht mehr verlassen, wofür Charmaine gar nicht genug danken konnte. Aber Frederics Reaktion stand noch aus und machte ihr Sorgen. Bisher hatte er sie noch nicht zur Rede gestellt, doch das würde sicher noch kommen.
John. Zwar entschuldigte sein beherztes Eingreifen seine früheren Verfehlungen in keiner Weise, aber es hatte wenigstens eine willkommene Atempause zur Folge. Charmaine senkte den Kopf, und als sie ein stilles Gebet für John sprach, hatte sie das Gefühl, als ob ihre Mutter sie darin bestärkte. Selbst gestern beim Dinner war er netter gewesen als sonst. In Abwesenheit von Paul und Agatha hatten sie in entspannter Atmosphäre gespeist, und John und George hatten zum Gaudium der Kinder in einem fort Witze erzählt und allerlei Unsinn getrieben. Den ganzen Abend über hatte sie keine spöttische Bemerkung hinnehmen müssen, und entsprechend unbesorgt hatte sie John heute Morgen mit der Sorge um Pierre betraut. Vielleicht lag ja das Schlimmste hinter ihnen, und sie hatten eine Art Waffenstillstand erreicht.
Nach dem Ende der Messe steuerte Stephen Westphal auf Paul zu.
»Was führt Sie denn zu uns in die Kapelle, Stephen?«, fragte Paul erstaunt.
Seit dem verhängnisvollen Dinner im letzten Dezember hatte sich Mr. Westphal nicht mehr in Les Charmantes blicken lassen. Er musterte Charmaine nur kurz. »Da ich Sie während der Woche nirgendwo erreichen konnte, hoffte ich, Sie heute hier zu treffen.«
»Und worum geht es?«
Agatha gesellte sich zu ihnen, und Stephen Westphal begrüßte sie mit einem Nicken. »Vielleicht sollten wir das besser im Arbeitszimmer besprechen. Es geht um etwas Geschäftliches. Außerdem ist die Sache vertraulich.«
»Sie können offen sprechen«, sagte Paul, den Westphals Geheimnistuerei sofort misstrauisch machte.
»Nun gut. Einige der Konten in Richmond, die Sie auflösen wollten, bestehen bereits nicht mehr.«
»Bestehen nicht mehr? Was soll das heißen?«
Westphal räusperte sich. »Die Gelder wurden bereits im März abgezogen, und zwar von Ihrem Bruder. Allem Anschein nach existiert bei der Virginia State Bank kein Guthaben mehr.«
Verdutzt rieb Paul seinen Nacken.
»Das ist ja fürchterlich!«, rief Agatha.
»Keine Sorge«, beschwichtigte Westphal sofort. »Ich habe Edward Richecourt beauftragt, sich mit der Bank of Richmond in Verbindung zu setzen. Die dortigen Konten bestehen nach wie vor. Von dort wurden auch die Rechnungen der Schiffswerften beglichen. Für die Zukunft halte ich es allerdings für ratsam, sämtliche Konten zu überprüfen, bevor weitere Zahlungen angewiesen werden.«
»Das können wir gleich erledigen, sobald ich meinen Bruder finde«, sagte Paul. »Vermutlich schläft er noch.«
»Er ist schon auf«, meldete sich Yvette zu Wort. »Er spielt im Speisezimmer mit Pierre.«
»Mit Pierre?« In diesem Moment fiel Paul erst auf, dass der Dreijährige fehlte. »Etwa allein?« Besorgt sah er Charmaine an. »Sie haben ihn allein bei John gelassen?«
»Ja …« Charmaine war ein wenig verunsichert. »Dort ist er doch gut aufgehoben.«
Wortlos verließ Paul die Kapelle. Stephen warf Agatha einen fragenden Blick zu, bevor er Paul nacheilte. Beklommen folgten die Mädchen und Charmaine. Warum hatte Paul sie so entgeistert angesehen, als
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