Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
einmal.«
»Wenn wir doch wieder ein Pony hätten …«
»Was willst du damit andeuten, Yvette?« Er drehte sich zu ihr um. »Hoffst du, dass ich euch ein Pony kaufe?«
»Oh, das wäre wunderbar, Johnny!« Ihr Gesicht glühte förmlich vor Begeisterung. »Zwei Ponys wären natürlich noch besser. Eines für mich und eines für Jeannette. Bitte, sag ja!«
Jeannette strahlte mit ihrer Schwester um die Wette, und John musste unwillkürlich lächeln. »Mal sehen«, sagte er dann und griff nach Phantoms Zügeln. »Na los, macht ein bisschen Platz. Ich muss in die Stadt und einige Geschäfte bei der Bank erledigen.«
»Ausgerechnet am Samstag und so früh am Morgen?«
»Mal sehen, ob ich den guten Mr. Westphal dazu zwingen kann, seine Bank vor neun Uhr aufzusperren. Womöglich treffe ich ihn ja noch in Nachthemd und Schlafmütze an.«
Jeannette und Yvette kicherten.
John wollte gerade den Stall verlassen, als Charmaine und Pierre eintraten. Sie hatte einen Brief in der Hand, den sie am Tag zuvor an Gwendolyn Browning geschrieben hatte, und wollte John bitten, ihn mitzunehmen, wenn er ohnehin in die Stadt ritt.
»Was höre ich denn da?« Er lachte leise. »Sie wollen mir ein so persönliches Anliegen anvertrauen?«
Sofort bedauerte Charmaine ihre Bitte. »Es tut mir leid, dass ich überhaupt gefragt habe!«
»Aber, aber.« Wieder lachte er. »Deswegen müssen Sie doch nicht gleich beleidigt sein. Geben Sie den Brief schon her. Ich werde ihn zuverlässig abgeben.«
Ihre Blicke waren so scharf wie Dolche. Dass er nie eine Gelegenheit ausließ, um sich über sie lustig zu machen!
Je länger sich der Vormittag hinzog, desto quengeliger wurden die Kinder. Nach dem Lunch schlug Charmaine ein Schläfchen vor. Yvette protestierte zwar, doch fünf Minuten später schlief auch sie tief und fest. Charmaine nahm das Vampirbuch an sich, das Yvette inzwischen ausgelesen hatte, und schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Sie wollte das Buch in die Bibliothek zurückbringen und sich selbst ein neues aussuchen.
Zu ihrer Überraschung saß John am Schreibtisch in der Bibliothek und hatte den Kopf in den Händen vergraben. Er war so tief in Gedanken versunken, dass er ihre Gegenwart gar nicht bemerkte.
»Sir?«, fragte sie leise.
Er hob den Kopf, aber gleich darauf wandte er den Blick ab und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Sie waren glasig, ja, gerötet, was nach einer schlaflosen Nacht kein Wunder war. Ob er noch immer an die seltsamen Vorfälle dieser Nacht dachte?
»Sir, geht es Ihnen gut?«
»Sir?«, äffte er sie nach und sah sie endlich an. »Ich dachte, wir hätten diese Förmlichkeit letzte Nacht hinter uns gelassen. Nennen Sie mich einfach John. Das gefällt mir besser.«
»Also gut«, sagte sie etwas zögernd, weil sie an Pauls Warnungen denken musste.
»Ich bin vor zwei Stunden aus der Stadt zurückgekommen, aber unseren kleinen Geist habe ich noch nicht gesehen. Ob er nur in der Nacht zum Vorschein kommt?«
»Was wollen Sie denn von Joseph?«
»Seinetwegen war ich heute Morgen auf der Bank, und jetzt würde ich ihm gern die Quittung geben, bevor er behauptet, dass ich ihm sein Geld gestohlen habe.«
»Die Quittung?« Charmaine war erstaunt. »Haben Sie seinen Dollar etwa auf ein Konto eingezahlt?«
Unwillig sah er sie an. »Ja, auf ein Sparkonto.«
»Natürlich.« Sie nickte und grinste.
»Ihrer Meinung nach war ich sicher zu mild, nicht wahr?«
»O nein, Sir … ich meine, John.«
Die Gouvernante machte sich einen Spaß mit ihm, und das gefiel ihm nicht. »Sind Sie aus einem bestimmten Grund hier, Miss Ryan?«
Sie sah auf das Buch in ihrer Hand hinunter und wurde ernst. »Ich bin froh, dass Sie Joseph so verständnisvoll behandelt haben. Mit Yvette verhält sich das etwas anders.«
Er runzelte die Stirn. »Mit Yvette? Warum das?«
»Die Kleine ist sicher klug, aber ihre Eskapaden geraten zunehmend außer Kontrolle. Nach dem Tod ihrer Mutter war ich anfangs großzügig. Dieses frühreife Benehmen war auf jeden Fall besser als Lethargie, und ihre Streiche haben auch Jeannette wieder zum Lachen gebracht. In letzter Zeit jedoch hat sie jede Zurückhaltung verloren.«
John schnaubte. »Ich würde mich viel mehr um Jeannette sorgen.«
»Um Jeannette?«
»Richtig. Das Mädchen ist einfach zu gut, einfach viel zu freundlich. Im Gegensatz zu Yvette, die selbstbewusst für sich eintritt und sich nicht manipulieren lässt, ist sie ein unschuldiges Ding, das leicht zu verletzen
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