Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
noch auf dem Herzen?«
Paul überhörte den spöttischen Ton. »Ich wäre froh, wenn du während meiner Abwesenheit auf Espoir ein Auge auf Charmantes hättest. Besonders auf den Tabak, mit dem wir noch keine Erfahrung haben.«
»Warum, zum Teufel, hast du ihn dann gepflanzt?«
»Das ist mir selbst nicht ganz klar. Seit ich weiß, wie viel zusätzliche Arbeit daran hängt, wünschte ich, dass ich mich für Kakao entschieden hätte. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Harold, George und Wade bewältigen die tägliche Arbeit gut, aber zusätzlich braucht Charmantes eine fähige und geübte Hand.«
»Willst du die Insel denn wirklich meinen unfähigen Händen anvertrauen?«
»Ich habe nie behauptet, dass du unfähig bist, John. Du ärgerst mich nur viel zu gern. Falls es Schwierigkeiten gibt – und das ist während meiner Abwesenheit die Regel –, verfügst du über mehr Autorität als George.«
» Keine Sorge. Du wirst nichts auszusetzen haben.«
»Gut. « Paul nickte zufrieden und war zum ersten Mal an diesem Morgen erleichtert. Dann fiel ihm noch etwas ein. »Es gibt noch etwas, John«, sagte er trotz Charmaines Bedenken. »Ich möchte mit dir noch über die Kinder sprechen.«
John sah seinen Bruder an. »Was gibt es?«
»Ich will nicht, dass du dich in ihr Leben einmischst, sie vom Unterricht ablenkst oder den Nachmittag über Kindermädchen spielst.«
»Ich wusste gar nicht, welch scharfe Augen du hast und woher du das alles weißt, obwohl du doch ständig arbeitest. Gibt es etwa einen Spion im Haus?«
»So etwas brauche ich nicht. Ich habe schließlich Augen im Kopf. Du weißt, dass es Vater nicht recht ist, wenn du zu viel Zeit mit den Kindern verbringst.«
»Dass es ihm nicht recht ist? Das ist mir einerlei. Ich werde die Kinder besuchen, und zwar, wann und wie oft ich das möchte. Das kannst du ihm ausrichten.«
»Verdammt, John! Wann hörst du endlich auf, ihn ständig zu verletzen?«
»Ich verletze ihn? Und was ist mit mir? Es hat Zeiten gegeben, da hast du zu mir gehalten!« Mit verächtlicher Miene fügte er hinzu: »Erinnere dich, Paul – er hat mit der Sache angefangen!«
»Und er hat dafür bezahlt.«
»Hat er das? Nun gut. So gesehen habe ich das auch.«
3
Sonntag, 10. September 1837
Eine Stunde vor der Messe erklärte Yvette, dass sie nicht daran teilnehmen wolle. »Die Bänke sind viel zu hart, und Father Benito redet immer dummes Zeug. Wenn Johnny nicht zur Messe geht, warum dann ich?« Charmaine redete dem Mädchen gut zu, sie beschwor es, und zuletzt drohte sie, die Sache mit ihrem Vater zu besprechen – aber ohne Erfolg.
John! Sie kochte innerlich. Alles seine Schuld! Seit seiner Ankunft hatte sie ihn noch kein einziges Mal in der Kapelle gesehen. Es war nur natürlich, dass Yvette Pauls Abwesenheit ausnutzte, um die Autorität ihrer Gouvernante gegen Johns auszuspielen. Na gut, das werden wir ja sehen , dachte sie, während sie zu Frederics Räumen stürmte.
Aber sie kam nicht weit. Im selben Moment verließ Agatha den südlichen Flügel und versperrte den Weg. Seit der Misshandlung des kleinen Pierre hatten sie so gut wie kein Wort mehr miteinander gewechselt, und Charmaine hatte nicht die Absicht, das jetzt zu tun. Mit kurzem Nicken wechselte sie die Richtung und ging stattdessen die Treppe hinunter.
Nachdem der erste Zorn verraucht war, kehrte die Vernunft zurück. An wen konnte sie sich wenden? Wer konnte eine bockige Achtjährige überzeugen, dass der Besuch der Messe für ihre Seele wichtig war? Rose? Vielleicht. John? Fast hätte sie gelacht. Er war schließlich die Wurzel allen Übels.
Andererseits wusste John von nichts. Wenn er von ihrem Problem hörte, würde er vielleicht sogar zusammen mit Yvette in die Kapelle gehen. Hatte er ihr nicht schon einmal geholfen?
Sie fand ihn im Esszimmer, wo er sich ganz allein ein ausgiebiges Frühstück genehmigte, während sich die übrige Hausgemeinschaft vor der heiligen Kommunion im Fasten übte. Unter der Woche hatte sie John kaum zu Gesicht bekommen, weil er Paul während seiner Abwesenheit vertrat. Trotzdem hatte er morgens, bevor er das Haus verließ, kurz mit den Kindern gespielt und sich auch abends hin und wieder mit ihnen beschäftigt. Es fiel ihr inzwischen zwar leichter, mit John zu sprechen, aber dieses Anliegen war besonders schwierig, und so trat sie nur zögernd an den Tisch.
»Verzeihen Sie, Sir.«
Er hob den Blick von der Zeitung. »Miss Ryan«, sagte er steif, weil ihm ihre Förmlichkeit auf
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