Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
in Jeannettes Bett geschlafen.«
»Ist das die orangefarbene Katze?«, fragte er, als ob er die Blicke seines Vaters nicht bemerkte.
»Nein, die heißt Orange. Pierre hat sie so getauft.«
»Orange ist mir heute Morgen übers Gesicht gelaufen und hat mich geweckt.«
Die Kinder kicherten fröhlich, doch Agatha schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Die Kätzchen sind hübsch, Jeannette, aber trotzdem müssen sie in ihrem eigenen Bett schlafen und nicht in deinem.«
Die Gesichter der Kinder fielen in sich zusammen, aber John wurde jetzt erst richtig munter.
»Sag, Vater, wie bekommt dir das Eheleben nach dem langen Junggesellendasein? Ist meine reizende Tante jetzt die Richtige, oder gehört der Platz in deinem Herzen noch immer meiner gütigen Mutter?«
Frederics Antwort kam schnell. »Von Elizabeths Güte hast du leider nichts geerbt.«
»So, so, Vater. Und wem schlage ich dann nach?«
»Gute Frage«, entgegnete Frederic. »Von deiner Geburt an hast du nur Qual und Kummer über dieses Haus gebracht.«
»Von meiner Geburt an?«, wiederholte John langsam und nachdenklich, was die Ungeheuerlichkeit dieser Aussage noch betonte.
Frederic zuckte zusammen. Verdammt! Warum habe ich das gesagt? Verdammt! Solche Wunden heilten nie. Die einzige Hoffnung für sie beide bestand darin, sich nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen. Ja, so war es am besten, entschied er.
Charmaine spielte mit ihrem Essen herum und wünschte, dass sie einfach aufstehen und gehen könnte. Die Atmosphäre erinnerte sie viel zu sehr an die Mahlzeiten ihrer Kindheit. Warum sagte ein Vater solche Sätze zu seinem Sohn? Und warum provozierte John seinen Vater absichtlich?
Die Minuten verstrichen, während die Mahlzeit ihren Fortgang nahm. Aus dem Augenwinkel sah Charmaine, wie John Messer und Gabel auf den Teller legte. Einen Moment lang hielt er den Kopf gesenkt. Dann schob er plötzlich seinen Stuhl zurück und stand auf. Also blieb er nicht zum Dessert. Sie seufzte erleichtert. Sie würden ihm sein Geschenk später geben, wenn der Augenblick günstiger war.
Aber Yvette war offenbar anderer Ansicht. »Johnny, warte!«, rief sie und sprang auf. Sie rannte um den Tisch herum und hielt ihm das Päckchen hin. »Alles Gute zum Geburtstag.«
Verdutzt sah John auf das Geschenk hinunter und machte keine Anstalten, es entgegenzunehmen. Yvette legte es kurz entschlossen auf den Tisch und wartete geduldig.
»Du bist der beste Bruder auf der Welt, und wir haben dich lieb«, erklärte sie voller Bewunderung.
John musste schlucken. Als er endlich das Bändchen löste, öffnete sich das Papier und enthüllte eine lederne Kappe. Ergriffen sank er wieder auf seinen Stuhl und stützte die Stirn in die Hand. »Danke«, stieß er leise hervor.
»Gefällt sie dir nicht?«, fragte Pierre von der anderen Seite des Tisches herüber.
John hob den Kopf und öffnete den Mund, aber Frederics Befehl kam ihm zuvor. »Pierre, komm her zu mir.«
Unentschlossen sah der Junge zwischen den beiden Männern hin und her und überlegte. Dann schaute er über Frederics rechte Schulter. Lächelnd rutschte er daraufhin von seinem Stuhl herunter, kletterte auf Frederics Schoß und schlang ihm die Ärmchen um den Hals.
»Ich liebe dich, mein Sohn«, murmelte Frederic ernst. Obgleich die Worte an Pierre gerichtet waren, ruhten seine Blicke auf John, sodass Charmaine nicht genau wusste, wer gemeint war.
»Ich liebe dich, Papa«, erklärte der Kleine fröhlich und strahlte.
Holz schrappte auf Holz, als John seinen Stuhl zurückstieß. Er stützte die Hände auf den Tisch und beugte sich mit verzerrtem Gesicht und feuchten Augen seinem Vater entgegen. »Ich hasse dich!«, stieß er so erstickt hervor, als ob er einen schweren Schlag auf den Brustkorb erhalten hätte. Dann packte er die Kappe und flüchtete aus dem Raum.
Charmaine sah zu Frederic hinüber. Er strich Pierre über das Haar, während ein schiefes Lächeln um seine Mundwinkel spielte. Doch seine Augen schimmerten dunkel vor Kummer.
Nach diesem Drama war die Stimmung im Kinderzimmer gedrückt. Charmaine war wie vor den Kopf geschlagen, und genau wie die Kinder, die lustlos im Spielzimmer herumsaßen, konnte sie sich auf nichts konzentrieren. Ihre Gedanken überschlugen sich, kehrten aber immer wieder zu einer Erkenntnis zurück: Es war Hass. Eindeutig. Dieses Gefühl kannte sie nur zu gut. Hass war der Begleiter ihrer Jugendjahre gewesen, aber sie hatte ihn stets in bitterem Schweigen in sich verschlossen. Im
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