Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
wenig trüber. War dieses Bild nur gemalt worden, um John zu verletzen?
Plötzlich stürzte Pierres Turm geräuschvoll in sich zusammen, und Charmaine sah zu, wie der Junge unter den Stühlen herumkroch, um die Klötze einzusammeln und den Bau von Neuem zu beginnen. Während der Turm in die Höhe wuchs, wankte und schwankte er, bis er erneut zusammenfiel. Aber der kleine Mann ließ sich nicht so schnell entmutigen, und Charmaine sah mit Staunen, wie er es ein drittes und ein viertes Mal versuchte.
Konnte man Johns Leben auch so leicht wieder zusammenfügen? Charmaine runzelte die Stirn. Warum fragte sie sich das? Warum dachte sie überhaupt an ihn? Wichtiger noch, wann hatte sie einmal nicht an ihn gedacht? Ihr war mulmig zumute, als sie begriff, dass sie die letzten beiden Tage offenbar nur an ihn gedacht hatte.
Frederic und er waren noch zu Hause. Wie es ihnen wohl ging? Sie schauderte, als sie an den Hass dachte, den sie miterlebt, und an die Schlüsse, die sie daraus gezogen hatte. Was, wenn die Kinder in diesem abscheulichen Spiel als Faustpfand benutzt wurden? Guter Gott, und sie stand in der Mitte. Wie sollte sie damit umgehen? Eine Antwort gab es nicht. Wenn sie Frieden finden wollte, musste sie die Fragen aus ihrem Kopf verbannen und sich der Zukunft zuwenden. Entschlossen stand sie auf.
»Pierre?« Sie legte das Buch auf den Tisch. »Ich muss kurz nach oben gehen. Nur eine Minute.«
»Warum?«
»Ich möchte Freunden in Virginia einen Brief schreiben, aber mein Briefpapier liegt in meinem Zimmer. Kann ich dich einen Moment allein lassen?«
Er nickte. »Hm.«
»Bleibst du brav hier und spielst weiter mit den Klötzen? Versprichst du mir das?«
»Ja, Mainie.«
Sie zwinkerte ihm zu. »Ich bin gleich wieder da.«
Er wollte die Geste erwidern, aber dazu musste er sein Lid mit den Fingern bewegen.
Lachend ging Charmaine davon.
John lehnte sich an den Türrahmen zwischen Bibliothek und Wohnraum. Er hatte gelesen, bis ihn fröhliches Lachen vom Schreibtisch weggelockt hatte. Und nun sah er zu, wie Pierre leise singend auf Händen und Knien herumkroch und seine Klötze zusammensuchte. Ein kurzer Blick verriet ihm, dass sie allein waren und er den Augenblick ungestört genießen konnte. Er trat einen Schritt auf den Jungen zu. »Guten Morgen, Pierre!«
Der Kleine fuhr herum. »Was machst du hier?«
»Dasselbe wollte ich dich fragen.«
Pierre deutete auf die Klötze. »Ich baue ein Haus.«
»Ein Haus? Wirklich? Und wer soll darin wohnen, wenn es fertig ist?«
»Ich und Mainie und Jeannie und Yvie und … du!«
»Oh, das könnte mir gefallen.« Wieder sah er sich um. »Wo ist Mainie überhaupt? Ich dachte, ich hätte sie vorhin lachen hören.«
»Sie war da, aber jetzt ist sie oben. Sie kommt gleich wieder. Ich soll auf sie warten. Dann lernen wir wieder das Albabet.«
»So, so, das Albabet?«
»Alphabet«, verbesserte Pierre ungehalten.
John zwinkerte. »Du kannst es also richtig sagen.«
»Ja! Soll ich es aufsagen? Ich kann es schon gut.«
John hörte zu und nickte anerkennend, als der Junge geendet hatte.
Pierre lief zu John hinüber. »Weißt du, welchen Buchstaben ich am liebsten mag?«
»Nein. Welchen denn?«
»Das M.«
»Und warum gerade das M?«
»Weil zwei Namen so anfangen, die ich am liebsten mag. Das hat Mainie gesagt.«
John war verwirrt. »So? Wen meinst du denn?«
»Mainie und Mama, du Dummkopf.«
»Aber natürlich! Bin ich dumm!«
»Kennst du meine Mama?«, fragte Pierre mit ernstem Gesicht. »Sie ist soo schön.«
»Das habe ich gehört«, murmelte John.
Pierre zog ihn an der Hand. »Komm, ich zeig sie dir.«
John wurde bleich, aber er folgte dem Jungen.
Die kleine Pilgerreise führte zum Treppenabsatz unter das Porträt der zauberhaften Colette Duvoisin in ihrem zartblauen Madonnengewand und mit dem mitfühlenden Blick, den sie erlittenem Schmerz verdankte.
»Heb mich hoch!« Als John nicht reagierte, zerrte Pierre an seinem Hemd. »Heb mich hoch!«
John tat es und trat noch einen Schritt näher, sodass sie fast unter dem Bild standen.
»Das ist meine Mama«, flüsterte Pierre so leise, als ob er sie nicht wecken wollte. »Ist sie nicht schön?«
»Ja«, flüsterte John. »Sie ist wunderschön.«
Ebenso vorsichtig wie John strich Pierre über die elfenbeinfarbenen Hände, die seine Mutter auf dem Schoß gefaltet hatte. Doch er runzelte die Stirn, als die raue Leinwand die täuschende Lebendigkeit zerstörte. »Sie lebt nicht mehr«, sagte er und sah John
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