Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
an.
»Nein«, murmelte John, wobei ihm die Worte fast im Hals stecken blieben. »Nein, sie lebt nicht mehr.«
Pierre legte das Köpfchen schief und betrachtete Johns feuchte Augen. »Warum weinst du?«
»Ich … ich glaube, dass ich sie vermisse«, sagte er leise.
»Liebst du sie?«
»Ja.«
»Und wie sehr?«
»Genauso sehr wie du.« Er schluckte den Schmerz hinunter, drückte den Jungen an sich und vergrub seine Lippen in Pierres weichem Haar.
Als Charmaine oben an der Treppe erschien, hatte er sich wieder in der Gewalt.
»Guten Morgen, Miss Ryan. Pierre und ich vertreiben uns ein wenig die Zeit.«
Sie war froh, dass er lächelte, auch wenn dieses Lächeln nicht bis zu seinen Augen reichte. »Es tut mir leid, dass ich ihn allein gelassen habe. Ich wollte nur schnell …«
»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Pierre und ich haben uns bestens unterhalten, nicht wahr, Pierre?«
Der Junge nickte und zappelte ungeduldig. John stellte ihn auf den Boden und sah ihm nach, wie er wieder in den Wohnraum rannte. Er wartete auf Charmaine, und zusammen folgten sie Pierre, der bereits wieder Häuser und Türme baute. John zog sich einen Stuhl heran.
Charmaine legte ihr Schreibpapier auf den Tisch und setzte sich John gegenüber. Er schien an Pierres neuem Werk sehr interessiert zu sein. Als er aufsah, begegneten sich ihre Blicke. »Geht … es Ihnen gut?«, fragte sie hastig.
Einen Moment lang zögerte er. »Wenn Sie wissen wollen, ob ich mich vom gestrigen Zweikampf erholt habe, so kann ich sagen, dass ich überleben werde. Sichtbare Narben gibt es keine.«
»Und unsichtbare?«
Wieder ein Stirnrunzeln und dann ein schiefes Lächeln. »Aber, aber, Miss Ryan. Könnte es sein, dass Sie mich allmählich verstehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »So etwas würde ich mir nie anmaßen.«
»Ah, aber Sie arbeiten daran.«
Das hämische Funkeln seiner Augen irritierte sie. »Ich wollte Sie nicht aushorchen.«
»Ich denke nicht, dass Ihnen das gelungen ist. Aber ich mache Ihnen Ihre Neugier nicht zum Vorwurf.« Er lehnte sich zurück. »Wir haben inzwischen mehr als zwei Monate zusammen verbracht, und Sie haben viele meiner Seiten kennengelernt – und, weiß Gott, nicht nur gute. Da finde ich es ganz normal, wenn man über meine Beweggründe nachdenkt.«
Er hielt einen Augenblick inne. Ob er auf eine Reaktion von ihr wartete? Schließlich verschränkte er die Arme und sah sie an. »Ich würde Ihre Meinung über mich sehr gern erfahren – wohlgemerkt Ihre ehrliche Meinung.«
Sie war sprachlos. Meinte er das ernst? »Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
»Und warum nicht?«
»Weil … weil … nun, ich kann es einfach nicht.«
»Falls Sie das beruhigt – meinen schlimmsten Wutanfall haben Sie miterlebt. Und Sie leben noch.« Er lachte leise in sich hinein. »Kommen Sie, Charmaine, ich weiß doch, dass Sie auf diesen Augenblick warten – den Augenblick der Wahrheit, sozusagen, an dem Sie mir sagen können, was Sie von mir halten, und ich Ihnen zuhören muss.«
»Sie irren sich!«
»Wirklich?« Ihr Erröten passte nicht recht zu ihrer Aussage. »Wie dem auch sei. Ich würde trotzdem gern Ihre Meinung hören. Was, wenn ich Ihnen Zurückhaltung und einen kühlen Kopf verspreche? Nein, ich habe eine bessere Idee«, fügte er nach einigem Nachdenken hinzu. »Wenn Sie ehrlich zu mir sind, werde ich Ihnen gegenüber genauso ehrlich sein. Ich vermute, dass Sie gern mehr über ein Familiengeheimnis erfahren würden, zum Beispiel, was Paul betrifft? Wenn es mir möglich ist, werde ich jede Frage beantworten, die Sie mir stellen.«
Charmaine riss die Augen auf. Er hatte ihren Appetit geweckt – und das wusste er.
»Ist das ein Handel?«
Plötzlich stand er auf, und aus Unsicherheit tat sie es ihm nach. Sie wusste nicht, was er vorhatte, bis er seine Hand ausstreckte. Langsam legte sie ihre kühle Hand in die seine und sah darauf hinunter.
Er hielt ihre Hand einen Augenblick in der seinen. »Auf Wahrheit und Ehrlichkeit.«
»Und Sie werden alle meine Fragen beantworten?«
»Sobald Sie mir mein wahres Selbst enthüllt haben«, sagte er mit einem schiefen Grinsen.
Sie wusste nicht, wo sie beginnen sollte … Aber dann fasste sie sich ein Herz. Hatten ihre Mutmaßungen sie nicht zwei ganze Tage lang gequält? »Ich denke, dass Sie ein Mann mit Vergangenheit sind«, begann sie vorsichtig und suchte auf seinem Gesicht nach ersten Anzeichen von Unmut. »Vermutlich hat man Sie verletzt oder enttäuscht. Jedenfalls
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