Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
Gegensatz zu John.
Und Frederic? Seine Verachtung für John war so offensichtlich wie ekelhaft. Sein widersprüchliches Benehmen stieß Charmaine ab. Einerseits überschüttete er Paul mit Lob und Anerkennung, und im selben Atemzug schleuderte er John die übelsten Verleumdungen entgegen – und das vor seinen jungen, empfindsamen Töchtern. Das Ganze machte keinen Sinn. Warum verbannte er John nicht einfach von Charmantes? Und warum war John noch immer da, obwohl er seinen Vater hasste? Wusste sie das nicht? Nein, das weißt du nicht .
Sie schrak zusammen, als es an ihrer Tür klopfte, und war sehr überrascht, als John davorstand. »Ich würde gern mit Ihnen sprechen. Darf ich hereinkommen?«
»Aber natürlich.«
Er trat ein. »Ich möchte mich für mein Benehmen beim Dinner entschuldigen. Ich wollte nicht …«
»Bei mir müssen Sie sich nicht entschuldigen«, fiel sie ihm ins Wort und war erleichtert, als Yvette unter der Tür erschien und zum ersten Mal seit dem Dinner wieder lächelte.
»Hast du die Kappe anprobiert?« Sie rannte zu ihrem Bruder. »Passt sie dir?«
»Sie passt perfekt. Deswegen bin ich ja gekommen. Ich wollte mich bedanken. Es hat vielleicht nicht so ausgesehen, als ob ich mich gefreut hätte. Aber das Gegenteil ist der Fall. Ich werde die Kappe genauso stolz tragen wie meine alte.«
»Wirklich?«
»Aber ja.« Er nickte Jeannette und Pierre zu, als sie sich zu ihnen gesellten. »Wenn ich ehrlich bin, gefällt sie mir sogar besser als meine alte.«
»Warum hast du Vater gesagt, dass du ihn hasst?«, fragte Yvette.
John sah zu Boden. »Das ist eine lange Geschichte. Sie ist in neunundzwanzig Jahren entstanden, und es dauert fast genauso lange, um die Sache zu erklären.«
»Wenn du Papa hasst, dann hasse ich ihn auch!«
»Aber nicht doch, Yvette!« John ging auf die Knie, umfasste ihre Schultern und sah sie eindringlich an. »Man hasst nicht jemanden, nur weil das ein anderer tut! Hass ist eine schlimme Sache und vergiftet das Leben.«
»Und warum hasst du Papa dann?«
»Ich hätte das nicht sagen dürfen. Aber ich war sehr wütend.«
»Und warum warst du wütend?«
»Um das zu verstehen, bist du noch ein bisschen jung. Aber unser Vater liebt dich, und es würde ihm wehtun, wenn er hören müsste, dass du ihn hasst.«
»Hast du ihm nicht wehgetan?«
»Das weiß ich nicht. Aber du willst das doch nicht tun. Oder?«
Als Yvette den Kopf schüttelte, strich er ihr übers Haar. Und während er aufstand, flüsterte er Charmaine noch rasch ein paar Worte zu. »Ihnen danke ich auch, Miss Ryan.«
»Und wofür?«
»Für den Versuch, meinen Geburtstag zu feiern.«
Samstag, 30. September 1837
Für einen Samstagnachmittag war das Haus ungewöhnlich still. Man hätte denken können, dass nach dem gestrigen Abend alle das Weite gesucht oder sich in eine ruhige Ecke geflüchtet hätten. Paul hatte das Haus schon im Morgengrauen verlassen. Kurz darauf war die Herrin des Hauses, die für gewöhnlich lange schlief, zu ungewöhnlich früher Stunde um sieben Uhr mit einem Wagen davongefahren, und einige Zeit später hatten sich auch George und Rose auf den Weg in die Stadt gemacht und die Zwillinge mitgenommen. Charmaine hatte entschieden, mit Pierre zu Hause zu bleiben. Doch nur zwei Stunden später fragte sie sich bereits, warum sie nicht mitgefahren war. Die Leere des Hauses drückte ihr aufs Gemüt, und selbst Pierres Fröhlichkeit konnte ihre melancholische Stimmung nicht vertreiben.
Der Kleine musste ihre trübe Stimmung gespürt haben, denn irgendwann hatte er das Buch weggeschoben und war von ihrem Schoß herunterrutscht. Im Augenblick spielte er mit seinen Bauklötzen.
Ihr Blick glitt durch den Raum und blieb an dem großen Bild über dem Kamin hängen. Seltsam. Obwohl sie so oft in diesem eleganten Raum gesessen hatte, hatte sie das Bild nie richtig angesehen. Dafür sah sie es heute umso klarer: ein Mann und zwei Jungen. Das hatte sich nicht verändert. Doch nun erblickte sie Frederic, der seinen adoptierten Sohn im Arm hielt, während sein ehelicher Sohn ein Stück abseits stand. Wieder dachte sie an Georges Worte: Die beiden haben ihr Leben lang um die Anerkennung ihres Vaters gewetteifert … Paul hatte stets die Nase vorn … Frederic war oft gemein zu John … Stellen Sie sich vor, wie er sich gefühlt haben muss, wenn der adoptierte Sohn um die Liebe seines Vaters buhlte, während er als leiblicher immer mit leeren Händen dastand … Charmaines Stimmung wurde noch ein
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