Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
verstecken Sie sich hinter einem Schutzschild aus Zynismus und Spott. Das Leben hat Ihnen einen schweren Schlag versetzt, und Sie wollen es ihm heimzahlen. Grausam zu sein, ist einfacher, als jemandem zu vergeben, so wie es leichter ist, zu lachen als zu weinen.«
»Ganz im Gegenteil, my charm . Den meisten fällt das Weinen leichter. Sein Lachen muss man sich hart erarbeiten und tagaus, tagein üben, um die Verzweiflung und den Verlust in Schach zu halten. Nur so kann man weiterleben …«
»Haben Sie sie geliebt?«, flüsterte Charmaine. Doch als sich seine Miene verhärtete, bedauerte sie den Fehler sofort. »Es tut mir leid. Ich hätte das nicht fragen …«
»Entschuldigen Sie sich nicht!«, herrschte er sie an. »Sonst widerrufe ich den Pakt.« Sein Auflachen klang hohl. »Diese Frage wird mir langsam langweilig. Pierre hat vor kaum zehn Minuten dasselbe gefragt.«
»Und was haben Sie geantwortet?«
»Was glauben Sie? Was habe ich wohl einem Kind gesagt, das nach seiner toten Mutter fragt?« Der Sarkasmus war nicht zu überhören. »Natürlich habe ich sie geliebt. Schließlich war sie meine › Stiefmutter ‹ .«
Er beendete die Unterhaltung, indem er ihr einfach den Rücken zukehrte. So viel zur Ehrlichkeit . Aber selbst in der Lüge ahnte sie die Wahrheit …
Paul beeilte sich mit seinem Bad, weil er den Besuch von Stephen Westphal erwartete. Wenn es nach Paul gegangen wäre, hätte das Gespräch noch warten können. Aber der Finanzmann hatte ihn in der Stadt getroffen und erklärt, dass die Sache keinen Aufschub duldete. Es war an der Zeit, dass die Aufbauphase auf Espoir zu einem Ende kam und mit der profitablen Arbeit begonnen wurde. In Kürze wurde das erste Schiff erwartet, doch zuvor mussten noch Handelsrouten festgelegt und Verträge mit Kunden und Geschäftspartnern geschlossen werden. Westphal hatte unermüdlich gearbeitet und auch seine unschätzbaren Verbindungen zum Festland genutzt. Nun wollte er seine Ergebnisse mit Paul abstimmen.
Paul betrat die Bibliothek, in der eine angespannte Stimmung herrschte. John stand am anderen Ende des Raums und starrte durch die französischen Türen nach draußen, während Westphal verlegen an seinem Kragen nestelte, der unangenehm eng in die Haut einschnitt. »Guten Abend, Stephen.«
Westphals Miene drückte große Dankbarkeit aus, als ob Paul ihn aus den Klauen der Hölle befreit hätte. »Guten Abend, Paul.« Er sprang auf und schüttelte ihm herzlich die Hand. »Ich bin wohl etwas zu früh gekommen.«
Paul ging zum Barschrank hinüber. »Aber nein, Stephen. Im Gegenteil. Ich muss mich entschuldigen, weil ich so lange auf den Zuckerrohrfeldern aufgehalten wurde. Wir sind noch immer mit den Folgen des Sturms beschäftigt.«
»Natürlich, natürlich.« Stephen nickte.
»Darf ich Ihnen einen Brandy einschenken?«, fragte er über die Schulter. Dabei sah er zu John hinüber, der bereits ein Glas in der Hand hielt.
»Sehr gern, wenn es Ihnen keine Mühe macht.«
Wieder sah Paul seinen Bruder an. »Konntest du unserem Gast keinen Drink anbieten?«, fragte er in scharfem Ton.
John drehte sich um. »Es ist nicht an mir, etwas anzubieten. Jedenfalls noch nicht.«
Paul runzelte die Stirn. Offenbar hatte es zuvor einen Wortwechsel zwischen den Männern gegeben. Die Frage war nur, was John gesagt hatte. Agathas Vermutungen fielen ihm wieder ein. Womöglich war Johns Benehmen ein erstes Anzeichen für das, was kommen würde, wenn potentielle Investoren und Geschäftspartner vermuten mussten, dass John die Geschäfte seines Bruders hintertrieb.
Agatha betrat den Raum und begrüßte Stephen Westphal mit ungewöhnlichem Überschwang. »Es ist ja so lange her, Stephen. Ich freue mich, dass Sie heute unser Gast sind.«
»Mir geht es nicht anders, liebe Agatha.«
John verzog das Gesicht. »Es ist nicht gerade schwierig, ihn zufriedenzustellen.«
Paul versuchte, die wachsende Spannung aufzulösen. So gern er seinen Bruder hinausgeschickt hätte, so sehr fürchtete er im Gegenzug eine vulgäre Bemerkung.
»Wird Frederic an der Besprechung teilnehmen?«, fragte Stephen.
»Ich fürchte, nein«, antwortete Agatha. »Er hat mich beauftragt, ihn zu entschuldigen.«
»Das tut mir leid.« Stephens Blick wanderte zu John. »Ihr Neffe hat vorhin eine Familienzusammenkunft erwähnt. Darf ich daraus schließen, dass sich die Gesundheit Ihres Mannes gebessert hat?«
»Das hat sie in der Tat«, bestätigte Paul. »Unser Treffen an Weihnachten ist übrigens seine Idee.
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