Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
plötzlich hämmerte er zornig auf sie ein und weckte eine Welle der Leidenschaft. Magisch wurde Charmaines Blick vom Flackern der Kerzen im Kandelaber angezogen. Sie sah, wie die Flammen mit den Schwingungen der Luft zu tanzen begannen und dem Takt der Rhapsodie folgten, und fühlte sich dem Docht verwandt, der sich brennend verzehrte und verging, sich wandelte und schließlich zum Frieden fand wie das Wachs, das auf die schwarzglänzende Oberfläche des Pianos tropfte.
Auf dem Höhepunkt zögerte John, eine schrille Dissonanz hallte von den Wänden wider, und er sank wie ausgebrannt in sich zusammen. Dann hämmerte er auf die Tasten, als ob er den Fehler seines Lebens damit auslöschen könnte. Die Tasten blockierten, und brutale Missklänge erfüllten die Luft.
Unwillig verzog Charmaine das Gesicht, weil sie die Schönheit der Melodie zurücksehnte.
Ganz langsam legte John die Arme auf die Tasten, barg sein Gesicht in ihrer Beuge und lauschte dem Schlag seines gequälten Herzens. Er hatte gehofft, die entsetzliche Verlassenheit auszulöschen, sie nicht erneut zu beschwören. Er holte Luft und schauderte, als er den angehaltenen Atem wieder ausstieß. Aber die junge Frau im Schatten, die ihn betrachtete, sah er nicht.
Sehr viel später würde sie sich einmal fragen, warum sie in diesem Augenblick nicht in ihr Zimmer zurückgekehrt war. »Hören Sie nicht auf«, bat sie stattdessen und betrat den Raum.
John fuhr herum und starrte sie finster an. In dieser Nacht wollte er allein sein.
»Sie … Sie spielen einfach wunderbar.«
Er gab einen unwilligen Laut von sich. »Vermutlich das Einzige, was ich richtig mache.«
»Außer den letzten Takten.«
»Stimmt.« Das klang eher abweisend.
Aber Charmaine nahm es nicht übel. Er schien sich zu quälen. »Trotzdem sollten Sie wegen eines Fehlers nicht gleich aufgeben. Den größten Teil haben Sie wunderbar gespielt. Mrs. Harrington hat immer gesagt …«
»Ist es nicht schon reichlich spät für Sie, Mademoiselle?«, fiel er ihr heftig ins Wort.
»Die Musik hat mich geweckt.«
»Ich bitte um Verzeihung.«
»Das ist unnötig. Ich mag dieses Stück besonders gern.«
»Ist das wahr?«, spottete er. »Warum habe ich Sie es dann noch nie spielen hören?«
»Ich bin nicht gut genug. Colette hat mir zwar Mut gemacht, aber nach ihrem Tod wurde mir verboten …«
»Verboten?« Seine Verdrießlichkeit wandelte sich in Zorn. »Wer hat das verboten?«
Die Wahrheit hatte die ganze Zeit über hinter der Tür gelauert und nur darauf gewartet, dass Charmaine sie öffnete. Krachend stürzten jetzt Erkenntnis und Antworten auf sie nieder. Verboten … dieses Wort öffnete die Türen und erhellte ihre Fragen. Die Rhapsodie … verboten. Johns Namen erwähnen … verboten. Ihm einen Brief schreiben … verboten. Johns Umgang mit den Kindern … verboten. Weitere Kinder bekommen … verboten. John und Colette … verboten ! Alles, was sie vermutet hatte, entsprach der Wahrheit! Musste einfach wahr sein! Gib Gott, dass dem nicht so war! »Ich … ich hätte nicht herunterkommen sollen«, stammelte sie.
Bevor sie weglaufen konnte, packte John sie am Arm. »Nicht so eilig!« Er zog sie zu sich herum. »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.«
Charmaine zuckte weder zurück, noch entzog sie ihm ihre Hand, und ihr melancholischer Blick besänftigte seinen Wutausbruch. »Bitte … gehen Sie nicht«, flüsterte er und ließ sie los. »Es war mein Vater, nicht wahr? Er hat Ihnen verboten, dieses Stück zu spielen, stimmt es?«
»Ja. Es tut mir leid.«
»Warum? Warum sollte Ihnen das leidtun?«
»Ich möchte das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Vater nicht noch mehr belasten.«
Er schnaubte verächtlich. »Das hat Colette auch immer gesagt, aber Sie haben noch weniger Einfluss auf die Lage als sie. Und sie hatte schon wenig genug. Wie ich bereits sagte, dauert es seit neunundzwanzig Jahren an. Nichts kann ein so grauenhaftes Verhältnis zwischen Vater und Sohn noch verschlechtern.«
»Und dennoch schmerzt es Sie, auch wenn Sie das bestreiten.«
»Ich bestreite gar nichts, außer dass Sie oder Colette irgendwelche Schuld daran tragen.«
»Ich hätte nicht davon anfangen sollen. Es tut mir leid, dass ich Ihnen wehgetan habe.«
John schien verblüfft. »Weshalb sollten Sie Mitleid mit mir haben?«
»Keine Ahnung«, antwortete Charmaine der Wahrheit entsprechend. »Vielleicht, weil ich Ihre Vergangenheit allmählich besser verstehe? Ich weiß zwar nicht, was vor vielen
Weitere Kostenlose Bücher