Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
dieser Stimmung in den Käfig des Löwen zu wagen, dachte sie und kehrte in ihr Zimmer zurück.
Für John verging die Nacht in großer Unentschlossenheit, gespickt mit Momenten der Verzweiflung. Sekunden addierten sich zu Minuten und zähen Stunden. Irgendwann schlug die große Uhr in der Halle zwei Mal. Die Wände vibrierten unter dem Schall, der noch lange im Treppenhaus nachhallte.
John lag auf dem Bett und lauschte seinem Atem. Zum ersten Mal seit endlosen Minuten war sein Kopf absolut leer. Viele Stunden hatte er über sein Problem nachgedacht, hatte alle Möglichkeiten abgewogen und zu guter Letzt wieder verworfen. Er hatte begriffen, und zwar vom ersten Moment dieses elenden Tages an, dass er sich nicht einfach nehmen konnte, was er bisher nie beansprucht hatte. Wenn er es tat, würde er die bescheidene und ihm so kostbare Zufriedenheit aufs Spiel setzen, die ihm in diesen wenigen Wochen geschenkt worden war.
Sein Glück hing von dem Glück anderer ab. Und da sich niemand mit ihm verschwören wollte, war es klüger, sich in die Hoffnungslosigkeit zu schicken und den vorgezeichneten Weg weiterzugehen. Sich mit der Strömung treiben lassen … dieser Kurs sollte auch in Zukunft sein Leben bestimmen.
Gott, wie sehr er dieses Verlies hasste, das ihn seit so vielen Jahren gefangen hielt! Er konnte weder vorwärts noch rückwärts gehen, konnte nur in der Erinnerung leben und den Himmel für das schlechte Blatt verfluchen, für das er sich entschieden hatte und mit dem er nun spielen musste. Wenn nichts geschah, musste er noch Stunden in diesem verdammten Bett zubringen und sich bis zur Erschöpfung hin und her wälzen …
Kurz entschlossen schleuderte er die Decke beiseite und sprang aus dem Bett. Doch als er seine unruhige Wanderung wieder aufnahm, stiegen auch die schmerzlichen Erinnerungen wieder empor. Lange hatte er sie gehegt und gehofft, dass die Zukunft sie eines Tages Wirklichkeit werden ließ. Aber die Zukunft war nicht gekommen, und die Vergangenheit war nie gestorben. Es war an der Zeit, dass er beide beerdigte. Vielleicht gelang ihm das ja, wenn er endlich seine Leidenschaft beschwor und seine Verzweiflung fahren ließ. Mit einem Mal wusste er genau, wohin er sich wenden musste. Er zog seinen Morgenmantel über und warf ohne Rücksicht auf die späte Stunde die Tür seines Zimmers heftig hinter sich ins Schloss.
Charmaine schrak aus tiefem Schlaf hoch und horchte ängstlich, wohin sich die Schritte am Ende des Korridors bewegten. Sie wusste, wer so spät durchs Haus ging, und strengte ihre Ohren an, um rechtzeitig zu hören, wenn die Schritte vielleicht verstohlen zurückkehrten. Zwar hatte sie ihre Tür verriegelt, aber trotzdem fürchtete sie, dass er über die Veranda, das unbenutzte Ankleidezimmer oder gar das Kinderzimmer hereinschleichen konnte. Die Sekunden dehnten sich zu Minuten, und als ihr wild pochendes Herz endlich langsamer schlug, beruhigte sich auch ihr Atem. Nichts – keine gefährlichen Geräusche … Hatte er das Haus verlassen? Oder lief er in der Bibliothek auf und ab und überlegte, wie er sich der hilflosen Gouvernante bemächtigen konnte? Nein, so war John nicht, beruhigte sie sich selbst. Er hatte ihr zu keiner Zeit Grund gegeben, sich zu ängstigen, sich vor Gewalttätigkeiten zu ängstigen. Heute war sie genauso schutzlos wie in der Nacht, als er nach Hause gekommen war. Doch heute gab es keinen Paul, keine Dienerschaft, keinen, der ihr zu Hilfe eilen konnte, wenn sie schrie. Sie schauderte … Aber hätte er ihr nicht auch früher etwas antun können? Die Nacht war schon zur Hälfte vorbei, und sie war auch nicht anders als andere – bis auf die Tatsache, dass er keinen Schlaf fand.
Und dann hörte sie es. Die verbotene Melodie. Träume ich? Sie hob den Kopf, aber sie konnte nur entfernt einzelne Tonfolgen der Sonate vernehmen. Sofort war Charmaine aus dem Bett. Sie träumte keineswegs! Irgendjemand spielte vollendet und rief sie, um der Melodie zu lauschen. Hastig verließ sie das verbarrikadierte Zimmer, schlüpfte in ihren Morgenmantel und folgte den Tönen, die auf seidenen Schwingen zu ihr emporstiegen. Wenn nur Colette da wäre …
Ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war, stand sie plötzlich barfuß unter der Tür zum Wohnzimmer. John saß mit leicht geneigtem Kopf am Piano und drehte ihr den Rücken zu. Anfangs schienen seine Finger die Tasten zu liebkosen und entlockten ihnen Töne von herzzerreißender Einsamkeit und brennender Sehnsucht. Doch
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