Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
Jahren hier auf Charmantes vorgefallen ist, aber ich denke, dass es Ihre Kindheit verändert hat und …« Sie zögerte.
»Und?«
»In gewisser Weise mag ich Sie, John. Ja, ich habe gelernt, Sie zu respektieren. Jedenfalls haben Sie nicht verdient, dass man Ihnen wehtut.«
»Niemand verdient das, Charmaine. Am wenigstens ein unschuldiges Kind.«
Zuerst dachte sie, dass er von sich selbst und seinem Vater sprach, aber in seinem Blick konnte sie keine Spur von Selbstmitleid oder Hass entdecken. Stattdessen schien er Frieden gefunden zu haben, so als ob er endlich begriffen hätte, was ihm entgangen war. Als er wieder sprach, war Charmaine vollkommen überrascht. »Möchten Sie gern das ganze Stück hören?«
Als sie nickte, kehrte er zum Piano zurück, und sie folgte ihm. Er setzte sich und legte die Hände auf die Tasten.
Sein erster Anschlag war weich, aber prägnant. Und dann explodierte der Klang im Raum. Seine Finger irrten sich nicht ein einziges Mal, folgten seinem Willen und entlockten dem Piano in fein abgestimmten Kadenzen eine unergründliche Sehnsucht, die anschwoll und abebbte wie die Brandung des Ozeans. Ohne Vorwarnung schrien die letzten Akkorde auf, bevor der letzte Ton erklang.
Nachdem John geendet hatte, war Charmaine traurig und beglückt zugleich und brachte kein Wort heraus, sondern seufzte nur tief.
»Sie scheinen unzufrieden, my charm .«
Es dauerte einen Moment, bis sie überhaupt merkte, dass er etwas gesagt hatte.
»Unzufrieden? Aber nein, ganz und gar nicht. Höchstens traurig, dass es schon zu Ende ist.«
»Ich spiele es gern immer wieder, sooft Sie möchten.« Ein schiefes Lächeln spielte um seine Lippen. »Falls Sie meine besondere Version ertragen können.«
»Und wie ich das kann!« Sie war begeistert. »Die letzten Takte sind ungewöhnlich schwer, aber ich bin sicher, dass der Komponist mit Ihrem Schluss zufrieden wäre.«
»Es ist der einzige, der mir möglich ist.«
Bevor sie noch über seine bizarre Bemerkung nachdenken konnte, trat er auf sie zu.
»Ich möchte mich gern für mein Benehmen entschuldigen«, sagte er, nur einen Atemzug von ihr entfernt. »Es hat Ihnen vermutlich Angst gemacht.«
Charmaine atmete ganz langsam ein. »Im Moment fühle ich mich durchaus sicher.«
Er lachte leise, als ihm plötzlich ihre Weiblichkeit bewusst wurde, die in ihrer Unschuld seine Sinne betörte. In diesem Moment erschien sie ihm begehrenswerter denn je. »Was womöglich leichtsinnig ist.«
Dann lag sie in seinen Armen, und sein Mund suchte ihre Lippen. Als seine Lippen ihr verführerisches Spiel begannen und im Wechsel geschmeidig und fordernd zugleich ihren Mund eroberten, raubte es ihr den Atem. Sie wehrte sich nicht, aber sie erwiderte seinen Kuss auch nicht. Eher suchte sie einfach nur Halt an ihm. Ihr Herz schmerzte, und jeder Nerv in ihrem Körper vibrierte bis in die Fingerspitzen. Als ihre Beine sie nicht mehr trugen, klammerte sie sich fester an ihn und überließ sich seinem Willen. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, dabei war es in Wirklichkeit nur ein winziger Augenblick, dachte sie. Und unerwartet obendrein. Wenn sie gewarnt gewesen wäre, hätte sie den Überfall vielleicht abgewehrt – erfolgreich abgewehrt. Doch jetzt überließ sie sich seinen Armen, schloss die Augen vor jeder Vernunft und der Wirklichkeit und öffnete sich den Empfindungen, die er in ihr weckte, fühlte seine warme Hand an ihrer Wange, den muskulösen Arm, an dem ihr Kopf lehnte, und den harten Brustkorb, der sich gegen ihre Brüste drückte. Er bedeckte ihre Kinnlinie mit winzigen Küssen, bis sich sein Kopf zwischen Hals und Haar vergrub. Und als seine Lippen die Haut ihres Halses liebkosten und seine Zähne sacht an ihrem Ohrläppchen knabberten, meinte sie das Klopfen ihres Herzens hören zu können. Sie stand wie gelähmt da und schwankte sogar ein wenig, als er plötzlich den Kopf hob und die Arme sinken ließ.
»Wir sollten es lieber dabei belassen«, flüsterte er.
Atemlos sah er sie an und forschte nach einem kleinen Zeichen der Hoffnung. Doch als sie schwieg, lächelte er. So unschuldig, wie sie war, ahnte sie nichts von den Stürmen, die sie in ihm ausgelöst hatte, von dem Blut, das heftig in seinen Adern und seinen Lenden pochte … Sich näher auf einen wie ihn einzulassen, hatte sie wirklich nicht verdient.
»In ein paar Stunden dämmert es bereits«, fuhr er fort, »und wir brauchen beide noch ein wenig Schlaf. Das dürfte uns jetzt kaum schwerfallen.«
Sie war
Weitere Kostenlose Bücher